URTEIL DES GERICHTSHOFES (Fünfte Kammer)
25. November 1999 (1)
5Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats - Richtlinie 79/409/EWG - Erhaltung
der wildlebenden Vogelarten - Besondere Schutzgebiete"
In der Rechtssache C-96/98
Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch P. Stancanelli,
Juristischer Dienst, und O. Couvert-Castéra, zum Juristischen Dienst der
Kommission abgeordneter nationaler Beamter, als Bevollmächtigte,
Zustellungsbevollmächtigter: C. Gómez de la Cruz, Centre Wagner, Luxemburg-Kirchberg,
gegen
Französische Republik, vertreten durch K. Rispal-Bellanger, Abteilungsleiterin in
der Direktion für Rechtsfragen des Ministeriums für Auswärtige Angelegenheiten,
und R. Nadal, stellvertretender Sekretär für Auswärtige Angelegenheiten in
derselben Direktion, als Bevollmächtigte, Zustellungsanschrift: Französische
Botschaft, 8 B, boulevard Joseph II, Luxemburg,
wegen Feststellung, daß die Französische Republik dadurch gegen ihre
Verpflichtungen aus Artikel 4 der Richtlinie 79/409/EWG des Rates vom 2. April
1979 über die Erhaltung der wildlebenden Vogelarten (ABl. L 103, S. 1) verstoßen
hat, daß sie weder die erforderlichen besonderen Maßnahmen für die Erhaltung
der Lebensräume von Vögeln im Sumpfgebiet des Poitou (Marais poitevin)
ergriffen noch geeignete Maßnahmen getroffen hat, um die Beeinträchtigung dieser
Lebensräume zu vermeiden,
erläßt
DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten der Ersten Kammer L. Sevón in Wahrnehmung
der Aufgaben des Präsidenten der Fünften Kammer sowie der Richter C. Gulmann
(Berichterstatter), J.-P. Puissochet, P. Jann und M. Wathelet,
Generalanwalt: N. Fennelly
Kanzler: D. Louterman-Hubeau, Hauptverwaltungsrätin
aufgrund des Sitzungsberichts,
nach Anhörung der Parteien in der Sitzung vom 10. Juni 1999,
nach Anhörung der Schlußanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 8. Juli
1999,
folgendes
Urteil
- 1.
- Die Kommission der Europäischen Gemeinschaften hat mit Klageschrift, die am
3. April 1998 bei der Kanzlei des Gerichtshofes eingegangen ist, gemäß Artikel 169
EG-Vertrag (jetzt Artikel 226 EG) Klage erhoben auf Feststellung, daß die
Französische Republik dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Artikel 4 der
Richtlinie 79/409/EWG des Rates vom 2. April 1979 über die Erhaltung der
wildlebenden Vogelarten (ABl. L 103, S. 1; im folgenden: Vogelschutzrichtlinie)
verstoßen hat, daß sie weder die erforderlichen besonderen Maßnahmen für die
Erhaltung der Lebensräume von Vögeln im Sumpfgebiet des Poitou (Marais
poitevin) ergriffen noch geeignete Maßnahmen getroffen hat, um die
Beeinträchtigung dieser Lebensräume zu vermeiden.
- 2.
- In Artikel 4 der Vogelschutzrichtlinie heißt es:
5(1)Auf die in Anhang I aufgeführten Arten sind besondere Schutzmaßnahmen
hinsichtlich ihrer Lebensräume anzuwenden, um ihr Überleben und ihre
Vermehrung in ihrem Verbreitungsgebiet sicherzustellen.
In diesem Zusammenhang ist folgendes zu berücksichtigen:
a)vom Aussterben bedrohte Arten,
b)gegen bestimmte Veränderungen ihrer Lebensräume empfindliche Arten,
c)Arten, die wegen ihres geringen Bestands oder ihrer beschränkten örtlichen
Verbreitung als selten gelten,
d)andere Arten, die aufgrund des spezifischen Charakters ihres Lebensraums
einer besonderen Aufmerksamkeit bedürfen.
Bei den Bewertungen werden Tendenzen und Schwankungen der Bestände der
Vogelarten berücksichtigt.
Die Mitgliedstaaten erklären insbesondere die für die Erhaltung dieser Arten
zahlen- und flächenmäßig geeignetsten Gebiete zu Schutzgebieten, wobei die
Erfordernisse des Schutzes dieser Arten in dem geographischen Meeres- und
Landgebiet, in dem diese Richtlinie Anwendung findet, zu berücksichtigen sind.
(2)Die Mitgliedstaaten treffen unter Berücksichtigung der Schutzerfordernisse
in dem geographischen Meeres- und Landgebiet, in dem diese Richtlinie
Anwendung findet, entsprechende Maßnahmen für die nicht in Anhang I
aufgeführten, regelmäßig auftretenden Zugvogelarten hinsichtlich ihrer
Vermehrungs-, Mauser- und Überwinterungsgebiete sowie der Rastplätze in ihren
Wanderungsgebieten. Zu diesem Zweck messen die Mitgliedstaaten dem Schutz der
Feuchtgebiete und ganz besonders der international bedeutsamen Feuchtgebiete
besondere Bedeutung bei.
(3)...
(4)Die Mitgliedstaaten treffen geeignete Maßnahmen, um die Verschmutzung
oder Beeinträchtigung der Lebensräume sowie die Belästigung der Vögel, sofern
sich diese auf die Zielsetzungen dieses Artikels erheblich auswirken, in den [in den]
Absätzen 1 und 2 genannten Schutzgebieten zu vermeiden. Die Mitgliedstaaten
bemühen sich ferner, auch außerhalb dieser Schutzgebiete die Verschmutzung oder
Beeinträchtigung der Lebensräume zu vermeiden."
- 3.
- Die Richtlinie 92/43/EWG des Rates vom 21. Mai 1992 zur Erhaltung der
natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen (ABl. L 206,
S. 7; im folgenden: Habitatrichtlinie) sieht in Artikel 7 folgendes vor: 5Was die
nach Artikel 4 Absatz 1 der Richtlinie 79/409/EWG zu besonderen Schutzgebieten
erklärten oder nach Artikel 4 Absatz 2 derselben Richtlinie als solche anerkannten
Gebiete anbelangt, so treten die Verpflichtungen nach Artikel 6 Absätze 2, 3 und
4 der vorliegenden Richtlinie ab dem Datum für die Anwendung der vorliegenden
Richtlinie bzw. danach ab dem Datum, zu dem das betreffende Gebiet von einem
Mitgliedstaat entsprechend der Richtlinie 79/409/EWG zum besonderen
Schutzgebiet erklärt oder als solches anerkannt wird, an die Stelle der Pflichten, die
sich aus Artikel 4 Absatz 4 Satz 1 der Richtlinie 79/409/EWG ergeben."
- 4.
- Artikel 6 Absätze 2, 3 und 4 der Habitatrichtlinie bestimmt:
5(2) Die Mitgliedstaaten treffen die geeigneten Maßnahmen, um in den
besonderen Schutzgebieten die Verschlechterung der natürlichen Lebensräume und
der Habitate der Arten sowie Störungen von Arten, für die die Gebiete
ausgewiesen worden sind, zu vermeiden, sofern solche Störungen sich im Hinblick
auf die Ziele dieser Richtlinie erheblich auswirken könnten.
(3)Pläne oder Projekte, die nicht unmittelbar mit der Verwaltung des Gebietes
in Verbindung stehen oder hierfür nicht notwendig sind, die ein solches Gebiet
jedoch einzeln oder in Zusammenwirkung mit anderen Plänen und Projekten
erheblich beeinträchtigen könnten, erfordern eine Prüfung auf Verträglichkeit mit
den für dieses Gebiet festgelegten Erhaltungszielen. Unter Berücksichtigung der
Ergebnisse der Verträglichkeitsprüfung und vorbehaltlich des Absatzes 4 stimmen
die zuständigen einzelstaatlichen Behörden dem Plan bzw. Projekt nur zu, wenn sie
festgestellt haben, daß das Gebiet als solches nicht beeinträchtigt wird, und
nachdem sie gegebenenfalls die Öffentlichkeit angehört haben.
(4)Ist trotz negativer Ergebnisse der Verträglichkeitsprüfung aus zwingenden
Gründen des überwiegenden öffentlichen Interesses einschließlich solcher sozialer
oder wirtschaftlicher Art ein Plan oder Projekt durchzuführen und ist eine
Alternativlösung nicht vorhanden, so ergreift der Mitgliedstaat alle notwendigen
Ausgleichsmaßnahmen, um sicherzustellen, daß die globale Kohärenz von Natura
2000 geschützt ist. Der Mitgliedstaat unterrichtet die Kommission über die von ihm
ergriffenen Ausgleichsmaßnahmen.
Ist das betreffende Gebiet ein Gebiet, das einen prioritären natürlichen
Lebensraumtyp und/oder eine prioritäre Art einschließt, so können nur
Erwägungen im Zusammenhang mit der Gesundheit des Menschen und der
öffentlichen Sicherheit oder im Zusammenhang mit maßgeblichen günstigen
Auswirkungen für die Umwelt oder, nach Stellungnahme der Kommission, andere
zwingende Gründe des überwiegenden öffentlichen Interesses geltend gemacht
werden."
- 5.
- Nach Artikel 23 Absatz 1 der Habitatrichtlinie erlassen die Mitgliedstaaten alle
erforderlichen Rechts- und Verwaltungsvorschriften, um dieser Richtlinie binnen
zwei Jahren nach ihrer Bekanntgabe nachzukommen. Da die Richtlinie im Juni
1992 bekanntgegeben wurde, lief diese Frist im Juni 1994 ab.
- 6.
- Am 23. Dezember 1992 richtete die Kommission an die französische Regierung
u. a. wegen Nichtbeachtung von Artikel 4 der Vogelschutzrichtlinie in bezug auf das
Sumpfgebiet des Poitou eine schriftliche Aufforderung zur Äußerung. Die
Kommission vertrat darin insbesondere die Ansicht, daß die im Sumpfgebiet des
Poitou zum besonderen Schutzgebiet erklärte Fläche von ca. 4 500 Hektar nicht
ausreiche, um den ornithologischen Anforderungen gerecht zu werden, und daß die
Wasserbau- und Landwirtschaftspolitik im Sumpfgebiet des Poitou zu einer
Beeinträchtigung der Lebensräume geführt habe und weiterhin führe. Außerdem
stellte sie fest, daß die französischen Behörden keine besonderen
Schutzmaßnahmen getroffen hätten, um das Überleben und die Vermehrung der
geschützten Arten sicherzustellen.
- 7.
- In ihrem Antwortschreiben vom 27. September 1993 erkannte die französische
Regierung die ornithologische Bedeutung des Sumpfgebiets des Poitou an. Sie wies
darauf hin, daß die Fläche der besonderen Schutzgebiete in dieser Region auf
28 693 Hektar ausgedehnt worden sei und eine weitere Vergrößerung geplant sei.
Sie räumte auch das Vorliegen bestimmter von der Kommission in der
Aufforderung zur Äußerung gerügter Verschlechterungen im Sumpfgebiet des
Poitou ein. Zugleich machte sie jedoch geltend, daß im Departement Charente-Maritime ein System zur Vermeidung von Verschmutzungen und
Beeinträchtigungen der Lebensräume und von Belästigungen der Vogelarten
eingeführt worden sei und zudem weitere Systeme zum Schutz des Sumpfgebiets
des Poitou bestünden.
- 8.
- In einem Berichtigungsschreiben vom 7. Dezember 1993 teilte die französische
Regierung der Kommission mit, die Gesamtfläche der besonderen Schutzgebiete
im Sumpfgebiet des Poitou belaufe sich auf 26 250 Hektar.
- 9.
- Mit Schreiben vom 28. Juni 1994 übermittelte das französische Umweltministerium
der Kommission eine berichtigte Karte mit dem Grenzverlauf und der Fläche des
besonderen Schutzgebiets 5Marais poitevin intérieur" sowie ein Schreiben vom 19.
April 1994, in dem das Umweltministerium dem Präfekten der Region Pays de la
Loire mitteilte, daß das Gelände der Autobahn A 83 als außerhalb dieses
besonderen Schutzgebiets liegend anzusehen sei.
- 10.
- Die Kommission gab am 28. November 1995 eine mit Gründen versehene
Stellungnahme ab, in der sie feststellte, daß die französische Republik dadurch
gegen ihre Verpflichtungen aus Artikel 4 der Vogelschutzrichtlinie verstoßen habe,
daß sie weder die erforderlichen besonderen Maßnahmen für die Erhaltung der
Lebensräume von Vögeln im Sumpfgebiet des Poitou ergriffen noch geeignete
Maßnahmen getroffen habe, um die Beeinträchtigung dieser Lebensräume zu
vermeiden. Die Kommission verwies darauf, daß die als besondere Schutzgebiete
ausgewiesenen 26 250 Hektar nur ein Drittel der ornithologisch bedeutsamen
Fläche des Sumpfgebiets des Poitou darstellten und daß der Schutzstatus der
besonderen Schutzgebiete den Anforderungen der ornithologischen Erhaltung
entsprechen müsse und nicht je nach den Infrastrukturprojekten geändert werden
könne, wie das im Sumpfgebiet des Poitou der Fall zu sein scheine. Zudem sei das
Ökosystem des Sumpfgebiets des Poitou seit mehreren Jahren durch systematische
Entwässerung und intensive Bewirtschaftung gefährdet, ohne daß geeignete
Maßnahmen ergriffen würden, um die Beeinträchtigung der Lebensräume und die
Belästigung der Wildvogelarten zu vermeiden, denen der Schutz der Zone zugute
kommen sollte. Außerdem wurde auf die Unvereinbarkeit der Streckenführung der
geplanten A 83 durch das Sumpfgebiet des Poitou mit dem Gemeinschaftsrecht
hingewiesen.
- 11.
- Mit Schreiben vom 11. Juni 1996 teilte die französische Regierung u. a. mit, daß
im Departement Charente-Maritime weitere 3 540 Hektar als besonderes
Schutzgebiet ausgewiesen worden seien und daß wegen der Entwässerung und der
Bewirtschaftung des Grünlandes im Sumpfgebiet des Poitou beim gegenwärtigen
Zustand des Gebietes neue Ausweisungen nicht mehr oder allenfalls noch in
marginalem Umfang möglich seien. Sie bestritt außerdem den Vorwurf, sie habe
keine geeignete Maßnahmen zur Erhaltung der Lebensräume der geschützten
Arten getroffen. Schließlich verwies sie darauf, daß die geplante Streckenführung
(Nordtrasse) für die Autobahn A 83 die Durchquerung aller besonderen
Schutzgebiete vermeide. Das Problem mit der Strecke der Autobahn A 83 sei auf
ein kartographisches Versäumnis zurückzuführen, da die
Gemeinnützigkeitserklärung für dieses Infrastrukturvorhaben bereits vor der
Ausweisung des besonderen Schutzgebiets ergangen sei.
Begründetheit
- 12.
- Die Kommission wirft der Französischen Republik vor, im Sumpfgebiet des Poitou
keine ausreichend große Fläche zum besonderen Schutzgebiet erklärt zu haben,
den eingerichteten besonderen Schutzgebieten keinen ausreichenden Rechtsstatus
verliehen zu haben, keine geeigneten Maßnahmen zur Vermeidung der
Beeinträchtigung des Sumpfgebiets des Poitou getroffen zu haben, und schließlich
ein Teilgebiet eines ausgewiesenen besonderen Schutzgebiets umgewidmet zu
haben, um dort den Bau eines Autobahnabschnitts zu ermöglichen.
Zum Umfang des besonderen Schutzgebiets
- 13.
- Die Kommission trägt vor, das Sumpfgebiet des Poitou, das aus verschiedenen
natürlichen Lebensräumen bestehe, die sich zur Erhaltung von vielen der in
Anhang I der Vogelschutzrichtlinie aufgeführten Vogelarten sowie einer großen
Zahl von Zugvogelarten eigneten, sei sowohl auf gemeinschaftlicher als auch auf
internationaler Ebene ein Gebiet von außerordentlicher ornithologischer Relevanz.
Durch die Erklärung von 26 250 Hektar des Sumpfgebiets des Poitou zum
besonderen Schutzgebiet habe die Französische Republik ihre Verpflichtungen aus
Artikel 4 Absätze 1 und 2 der Vogelschutzrichtlinie nicht erfüllt. 77 900 Hektar des
Sumpfgebiets des Poitou seien 1994 von den französischen Behörden als Gebiet
von Bedeutung für die Erhaltung der Vögel (im folgenden: GBEV) anerkannt
worden. Ferner seien 57 830 Hektar des Sumpfgebiets des Poitou in das 1989
veröffentlichte europäische ornithologische Verzeichnis 5Important Bird Areas in
Europe" (im folgenden: IBA-Verzeichnis) aufgenommen worden. Nach Auffassung
der Kommission muß das gesamte GBEV oder zumindest die gesamte in das IBA-Verzeichnis aufgenommene Zone zum besonderen Schutzgebiet erklärt werden.
- 14.
- Die französische Regierung macht geltend, im April 1996 habe die Gesamtfläche
der im Sumpfgebiet des Poitou zum besonderen Schutzgebiet erklärten Gebiete
33 742 Hektar betragen. Mit dieser Fläche habe die Französische Republik ihre
gemeinschaftsrechtlichen Verpflichtungen bereits zum größten Teil erfüllt. Die
französische Regierung bestreitet dennoch nicht, daß die Ausweisung zusätzlicher
Gebiete des Sumpfgebiets des Poitou als besonderes Schutzgebiet wünschenswert
wäre. Sie beabsichtige, demnächst zusätzlich die Einstufung von 15 000 Hektar, die
sowohl nach ornithologischen Maßstäben als auch in funktioneller Hinsicht relevant
sei, als besonderes Schutzgebiet anzuzeigen. Eine Studie der Vogelschutzliga vom
November 1998 zeige, daß die im Sumpfgebiet des Poitou bereits eingerichteten
besonderen Schutzgebiete und die demnächst hinzukommenden Gebiete es
aufgrund ihres ornithologischen Wertes ermöglichten, den gesamten für die
Vermehrung der Wildvögel des Sumpfgebiets des Poitou benötigten Lebensraum
zu erhalten. Auf diese Weise würde die Französische Republik ihre
gemeinschaftsrechtlichen Verpflichtungen aus der Vogelschutzrichtlinie vollständig
erfüllen.
- 15.
- Das Sumpfgebiet des Poitou ist unstreitig ein Naturgebiet mit besonderer
ornithologischer Bedeutung für zahlreiche unter Artikel 4 Absätze 1 und 2 der
Vogelschutzrichtlinie fallende Vogelarten; die französische Regierung bestreitet in
der Sache nicht, daß die Fläche der im Sumpfgebiet des Poitou als besondere
Schutzgebiete ausgewiesenen Gebiete dem Artikel 4 der Vogelschutzrichtlinie nicht
genügt.
- 16.
- Welche Fläche die besonderen Schutzgebiete im Sumpfgebiet des Poitou haben
müßten, um den Anforderungen der Vogelschutzrichtlinie zu genügen, kann daher
dahinstehen. Die Französische Republik hat innerhalb der gesetzten Frist im
Sumpfgebiet des Poitou keine ausreichend große Fläche zum besonderen
Schutzgebiet im Sinne von Artikel 4 Absätze 1 und 2 der Vogelschutzrichtlinie
erklärt. Folglich ist der Klage der Kommission in diesem Punkt stattzugeben.
Zum rechtlichen Schutzstatus der bereits eingerichteten besonderen Schutzgebiete
- 17.
- Die Kommission trägt vor, die Französische Republik habe für die zum besonderen
Schutzgebiet erklärten Gebiete des Sumpfgebiets des Poitou kein rechtliches
Schutzstatut geschaffen, das den Schutz der Lebensräume sowie das Überleben und
die Vermehrung der geschützten Arten sicherstellen könne. Insbesondere könnten
die sogenannten 5Agrarumweltmaßnahmen" und das Gesetz Nr. 97-3 vom 3.
Januar 1992 über das Wasser (JORF vom 4. Januar 1992, S. 187; im folgenden:
Wassergesetz), auf die sich die französische Regierung beziehe, nicht den von
Artikel 4 der Vogelschutzrichtlinie geforderten effektiven Schutz der Vogelfauna
gewährleisten. Die übrigen von der französischen Regierung angeführten
Maßnahmen seien zu spät getroffen worden.
- 18.
- Die französische Regierung macht geltend, die Agrarumweltmaßnahmen seien
Verträge zwischen dem Staat und den Landwirten über die Entwicklung
umweltfreundlicher landwirtschaftlicher Betriebsmethoden, insbesondere durch die
Beschränkung des Einsatzes von Stickstoffdünger und der Anzahl der Schnitte.
Diese Verträge trügen zur Beibehaltung der extensiven Tierhaltung bei und
ermöglichten es, Umwandlungen von Feuchtwiesen, Entwässerungen und
wasserbauliche Veränderungen zu vermeiden und so die Erhaltung der
Feuchtgebiete und der natürlichen Lebensräume der Vögel sicherzustellen. Auch
das Wassergesetz trage, soweit es Feuchtgebiete schütze, direkt zur Erhaltung der
Wildvögel bei. Die französische Regierung verweist schließlich darauf, daß am 7.
Oktober 1997, am 29. Dezember 1997 und am 12. Februar 1998 drei Verordnungen
des Präfekten zum Schutz der Biotope des Marais doux de Charente-Maritime, der
Terrées du Pain Béni und der Pointe de l'Aiguillon erlassen worden seien und daß
außerdem im Juli 1996 2 300 Hektar in der Bucht von Aiguillon zum
Naturschutzgebiet erklärt worden seien.
- 19.
- Nach ständiger Rechtsprechung ist das Vorliegen einer Vertragsverletzung anhand
der Lage zu beurteilen, in der sich der Mitgliedstaat bei Ablauf der in der mit
Gründen versehenen Stellungnahme gesetzten Frist befand (vgl. u. a. Urteile vom
3. Juli 1997 in der Rechtssache C-60/96, Kommission/Frankreich, Slg. 1997, I-3827,
Randnr. 15, und vom 18. März 1999 in der Rechtssache C-166/97,
Kommission/Frankreich, Slg. 1999, I-1719, Randnr. 18).
- 20.
- Der Erlaß der drei Verordnungen des Präfekten zum Schutz der Biotope und die
Einrichtung des Naturschutzgebiets in der Bucht von Aiguillon, die in Randnummer
18 erwähnt werden, erfolgten jedoch nach Ablauf der Frist von zwei Monaten, die
in der mit Gründen versehenen Stellungnahme vom 28. November 1995 gesetzt
worden war.
- 21.
- Diese Maßnahmen sind daher im Rahmen des vorliegenden
Vertragsverletzungsverfahrens nicht zu berücksichtigen.
- 22.
- Zu den übrigen Maßnahmen, mit denen nach Ansicht der französischen Regierung
ein ausreichender Schutzstatus für die besonderen Schutzgebiete geschaffen werden
sollte, ist festzustellen, daß Artikel 4 Absätze 1 und 2 der Vogelschutzrichtlinie die
Mitgliedstaaten nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes dazu verpflichtet, ein
besonderes Schutzgebiet mit einem rechtlichen Schutzstatus auszustatten, der
geeignet ist, u. a. das Überleben und die Vermehrung der in Anhang I der
Richtlinie aufgeführten Vogelarten sowie die Vermehrung, die Mauser und die
Überwinterung der nicht in Anhang I aufgeführten, regelmäßig auftretenden
Zugvogelarten sicherzustellen (in diesem Sinne Urteile vom 2. August 1993 in der
Rechtssache C-355/90, Kommission/Spanien, Slg. 1993, I-4221, Randnrn. 28 bis 32,
und vom 18. März 1999, Kommission/Frankreich, Randnr. 21).
- 23.
- Das Wassergesetz bezweckt nach seinem Artikel 2 eine ausgewogene
Bewirtschaftung der Wasserressourcen, wobei insbesondere die Erhaltung der
aquatischen Ökosysteme, der Schutz vor Verschmutzung und die Wiederherstellung
der Qualität des Oberflächen- und Grundwassers sowie der Küstenmeere und die
Aufwertung des Wassers als wirtschaftliche Ressource angestrebt werden, um so
den Anforderungen der Gesundheit, des öffentlichen Gesundheitswesens, der
öffentlichen Sicherheit, der Trinkwasserversorgung der Bevölkerung, der Erhaltung
und des ungestörten Flusses der Gewässer, des Hochwasserschutzes, der
Landwirtschaft, der Fischerei und der Meereskulturen, der Süßwasserfischerei, der
Industrie, des Schutzes der Energie, des Transports, des Tourismus, des
Freizeitsektors und des Wassersports sowie aller anderen rechtmäßig ausgeübten
menschlichen Tätigkeiten zu genügen oder diese miteinander in Einklang zu
bringen.
- 24.
- Nach Artikel 10 Absatz 2 des Wassergesetzes werden Anlagen, Bauwerke, Arbeiten
und Tätigkeiten, die zu Entnahmen aus dem Oberflächen- oder Grundwasser -
unabhängig von einer Rückführung des entnommenen Wassers -, zu einer
Veränderung des Wasserspiegels oder -abflusses, zu Ableitungen, Abflüssen, oder
direkten oder indirekten, andauernden oder vorübergehenden - auch nicht
verunreinigenden - Einleitungen oder Ablagerungen führen können, in einer Liste
erfaßt, die durch ein nach Stellungnahme des Staatsrates und Anhörung des
Nationalen Wasserkomittees zu erlassendes Dekret festgelegt wird; sie bedürfen
außerdem je nach den mit ihnen verbundenen Gefahren und der Schwere ihrer
Auswirkungen auf die Wasserressourcen und die aquatischen Ökosysteme der
Genehmigung oder der Anmeldung.
- 25.
- Selbst wenn die eingerichteten besonderen Schutzgebiete ausschließlich aus
Feuchtgebieten bestünden und das Wassergesetz einen effektiven Schutz der
Wasserressourcen in diesen Gebieten erlauben würde, würde das nichts daran
ändern, daß dieses Gesetz, das nur Regelungen zur Wasserwirtschaft enthält, als
solches nicht geeignet ist, einen ausreichenden Schutz im Sinne von Artikel 4
Absätze 1 und 2 der Vogelschutzrichtlinie zu gewährleisten.
- 26.
- Die sogenannten 5Agrarumweltmaßnahmen" hingegen sind, wie die Kommission
vorgetragen hat und wie der Generalanwalt in Randnummer 26 seiner
Schlußanträge ausführt, freiwillig und haben lediglich eine Anreizfunktion für die
Landwirte, die im Sumpfgebiet des Poitou Land bewirtschaften.
- 27.
- Diese Maßnahmen kommen daher jedenfalls nicht als wirksame Ergänzung der
Schutzregelung für die eingerichteten besonderen Schutzgebiete in Betracht.
- 28.
- Folglich ist festzustellen, daß die Französische Republik dadurch gegen ihre
Verpflichtungen aus Artikel 4 Absätze 1 und 2 der Vogelschutzrichtlinie verstoßen
hat, daß sie keine Maßnahmen getroffen hat, um den im Sumpfgebiet des Poitou
eingerichteten besonderen Schutzgebieten einen ausreichenden rechtlichen
Schutzstatus zu verleihen. Der Klage der Kommission ist daher auch in diesem
Punkt stattzugeben.
Zur Beeinträchtigung des Sumpfgebiets des Poitou
- 29.
- Die Kommission trägt vor, daß die natürlichen Lebensräume der Wildvögel im
gesamten Sumpfgebiet des Poitou eine Beeinträchtigung erlitten hätten. Die
Naturwiesen, die das wichtigste Gebiet für die Erhaltung der Wildvogelfauna des
Sumpfgebiets des Poitou darstellten und die 1973 eine Fläche von 55 450 Hektar
ausgemacht hätten, seien bis 1990 auf eine Fläche von ca. 26 750 Hektar
zurückgegangen; in diesem Zeitraum seien ca. 28 700 Hektar in Bewirtschaftung
genommen worden. Um die landwirtschaftlichen Tätigkeiten zu erleichtern, seien
Entwässerungs- und Flurbereinigungsmaßnahmen in Feuchtgebieten sowie
Grabenfüllungen durchgeführt worden.
- 30.
- Die erhebliche Abnahme bestimmter Vogelbestände wie der überwinternden Enten
oder der Uferschnepfen im besonderen Schutzgebiet Bucht von Aiguillon sei eine
wichtige direkte Folge des Rückgangs der Feuchtgebiete.
- 31.
- Die Kommission habe in der mit Gründen versehenen Stellungnahme festgestellt,
daß die Französische Republik gegen ihre Verpflichtungen aus Artikel 4 der
Vogelschutzrichtlinie verstoßen habe, indem sie nicht die erforderlichen
Maßnahmen zur Vermeidung einer Beeinträchtigung des Sumpfgebiets des Poitou
getroffen habe, und zwar sowohl hinsichtlich der bereits zu besonderen
Schutzgebieten erklärten Gebiete als auch bezüglich der Gebiete, für die eine
derartigen Maßnahme noch erforderlich sei.
- 32.
- Die französische Regierung trägt vor, die Erhaltung des Sumpfgebiets des Poitou
sei direkt mit den Bewirtschaftungsbedingungen der Feuchtwiesen und folglich mit
dem landwirtschaftlichen Kontext verknüpft, der in den letzten Jahren besonders
durch den Rückgang der extensiven Rinderzucht gekennzeichnet sei, die sich für
die Nutzung solcher Flächen am besten eigne. Sie räumt ein, daß die
Schutzregelung für das Gebiet nicht immer wirkungsvoll gewesen sei. Sie macht
jedoch geltend, daß die Verantwortung für den Rückgang der Feuchtgebiete in
erster Linie bei der Gemeinsamen Agrarpolitik (im folgenden: GAP) und nicht
allein bei den französischen Behörden liege.
- 33.
- Die Agrarumweltbeihilfen erforderten nämlich einen erheblichen finanziellen
Einsatz des Staates, während die häufig höheren Beihilfen für die
Intensivlandwirtschaft im Rahmen der GAP vollständig aus dem
Gemeinschaftshaushalt finanziert würden. Dieser Unterschied in der Verwirklichung
zwischen den europäischen Politiken für die Intensivlandwirtschaft und denen für
eine umweltfreundliche Landwirtschaft sei die Ursache für die Schwierigkeiten bei
der Erhaltung des Sumpfgebiets des Poitou. Das für Viehzüchter ungünstige
gemeinschaftliche System der Beihilfen für die Landwirtschaft stünde daher mit der
Politik zur Erhaltung der Feuchtgebiete in Widerspruch.
- 34.
- Die französische Regierung betont allerdings, daß die Feuchtgebiete nur bis 1990
in erheblichem Umfang urbar gemacht worden seien; zu Beginn der neunziger
Jahre sei diese Tendenz insbesondere durch die Einführung der
Agrarumweltmaßnahmen praktisch zum Erliegen gekommen.
- 35.
- Artikel 4 Absatz 4 Satz 1 der Vogelschutzrichtlinie verpflichtet die Mitgliedstaaten
sowohl in seiner ursprünglichen Fassung als auch in der durch die Habitatrichtlinie
geänderten Fassung, geeignete Maßnahmen zu treffen, um insbesondere die
Beeinträchtigung der Lebensräume in den gemäß Artikel 4 Absatz 1 eingerichteten
besonderen Schutzgebieten zu vermeiden.
- 36.
- Nach ständiger Rechtsprechung obliegt es im Rahmen eines
Vertragsverletzungsverfahrens nach Artikel 169 EG-Vertrag der Kommission, das
Vorliegen der behaupteten Vertragsverletzung nachzuweisen und dem Gerichtshof
die erforderlichen Anhaltspunkte zu liefern, anhand deren er das Vorliegen dieser
Vertragsverletzung prüfen kann (vgl. u. a. Urteile vom 25. Mai 1982 in der
Rechtssache 96/81, Kommission/Niederlande, Slg. 1982, 1791, Randnr. 6, und vom
18. März 1999 in der Rechtssache Kommission/Frankreich, Randnr. 40).
- 37.
- Daher ist zu prüfen, ob der Gerichtshof über ausreichende Anhaltspunkte dafür
verfügt, festzustellen, daß die Französische Republik unter Verletzung von Artikel
4 Absatz 4 der Vogelschutzrichtlinie nicht die notwendigen Maßnahmen ergriffen
hat, um die Beeinträchtigung der bereits zu besonderen Schutzgebieten erklärten
Gebiete des Sumpfgebiets des Poitou zu vermeiden.
- 38.
- Es ist unstreitig, daß die französischen Behörden bei Ablauf der in der mit
Gründen versehenen Stellungnahme gesetzten Frist die Bucht von Aiguillon, die
Pointe d'Arçay und das Marais poitevin intérieur zu besonderen Schutzgebieten
erklärt hatten.
- 39.
- Wie sich aus dem Antwortschreiben der französischen Regierung vom 11. Juni 1996
auf die mit Gründen versehene Stellungnahme, aus der mit Gründen versehenen
Stellungnahme und aus den bei den Akten befindlichen Karten ergibt, trocknen das
Naturschutzgebiet Saint-Denis du Payré und die Gemeindewiesen von Poiré-sur-Velluire, die zum besonderen Schutzgebiet Marais poitevin intérieur gehören,
derzeit aus. Den Akten ist auch zu entnehmen, daß die Aquakulturanlagen und
-eindeichungen in den besonderen Schutzgebieten Bucht von Aiguillon und Pointe
d'Arçay erweitert worden sind, was zu einer Störung der Vogelfauna geführt hat.
Zudem belegt die in Randnummer 14 erwähnte Studie der Vogelschutzliga, daß der
Durchschnittsbestand der in der Bucht von Aiguillon und an der Pointe d'Arçay
überwinternden Enten von 67 845 im Zeitraum 1977-1986 auf 16 551 im Zeitraum
1987-1996 zurückgegangen ist.
- 40.
- Damit steht fest, daß die Französische Republik ihre Verpflichtung, geeignete
Maßnahmen zur Vermeidung einer Beeinträchtigung der zu besonderen
Schutzgebieten erklärten Gebiete des Sumpfgebiets des Poitou zu ergreifen, nicht
erfüllt und somit Artikel 4 Absatz 4 Satz 1 der Vogelschutzrichtlinie verletzt hat.
Das Vorbringen der französischen Regierung, das gemeinschaftliche Beihilfesystem
für die Landwirtschaft benachteilige eine mit den Erhaltungsanforderungen der
Vogelschutzrichtlinie vereinbare Landwirtschaft, ist nicht relevant. Selbst wenn es
zuträfe, was auf eine gewisse Inkohärenz zwischen den verschiedenen
Gemeinschaftspolitiken deuten würde, dürfte sich ein Mitgliedstaat seinen
Verpflichtungen aus der Richtlinie und insbesondere aus Artikel 4 Absatz 4 Satz
1 nicht entziehen.
- 41.
- Außerdem erlegt Artikel 4 Absatz 4 Satz 1 der Vogelschutzrichtlinie nach der
Rechtsprechung des Gerichtshofes den Mitgliedstaaten die Pflicht auf, geeignete
Maßnahmen zu treffen, um insbesondere die Beeinträchtigung der Lebensräume
in den für die Erhaltung der Wildvogelfauna geeignetsten Gebieten zu vermeiden,
auch wenn die betreffenden Gebiete rechtswidrig nicht zu besonderen
Schutzgebieten erklärt wurden (vgl. Urteile Kommission/Spanien, Randnr. 22, und
vom 18. März 1999, Kommission/Frankreich, Randnr. 38).
- 42.
- Folglich kann hinsichtlich der nicht zu besonderen Schutzgebieten erklärten
Gebiete ein Verstoß gegen Artikel 4 Absatz 4 Satz 1 der Vogelschutzrichtlinie nur
dann vorliegen, wenn die betreffenden Gebiete zu den zahlen- und flächenmäßig
für die Erhaltung geschützter Arten geeignetsten Gebieten im Sinne von Artikel 4
Absatz 1 Unterabsatz 4 gehören (vgl. Urteil vom 18. März 1999,
Kommission/Frankreich, Randnr. 39) und wenn tatsächlich eine Beeinträchtigung
der Gebiete eingetreten ist.
- 43.
- Damit ist zu prüfen, ob der Gerichtshof über ausreichende Anhaltspunkte verfügt,
um festzustellen, daß die Französische Republik unter Verletzung von Artikel 4
Absatz 4 der Vogelschutzrichtlinie nicht die notwendigen Maßnahmen ergriffen hat,
um die Beeinträchtigung der Gebiete des Sumpfgebiets des Poitou zu vermeiden,
die zu besonderen Schutzgebieten hätten erklärt werden müssen.
- 44.
- Den Akten ist nicht zu entnehmen, daß alle Gebiete des Sumpfgebiets des Poitou,
die zu besonderen Schutzgebieten hätten erklärt werden müssen, von
Beeinträchtigungen im Sinne von Artikel 4 Absatz 4 Satz 1 der
Vogelschutzrichtlinie betroffen waren. Insbesondere wird dies nicht dadurch belegt,
daß im Sumpfgebiet des Poitou von 1973 bis 1990 ca. 28 700 Hektar Naßwiesen
urbar gemacht wurden. Zumindest deutet nichts darauf hin, daß diese Naßwiesen
alle Gebiete des Sumpfgebiets des Poitou erfaßten, die zu besonderen
Schutzgebieten hätten erklärt werden müssen. Außerdem steht fest, daß ein
unbekannter Teil dieser Wiesenflächen bereits vor dem Inkrafttreten der
Vogelschutzrichtlinie urbar gemacht wurde.
- 45.
- Aus dem Antwortschreiben der französischen Regierung vom 11. Juni 1996 auf die
mit Gründen versehene Stellungnahme, aus der mit Gründen versehenen
Stellungnahme, aus dem Mahnschreiben der Kommission und der Antwort der
französischen Regierung vom 27. September 1993 und aus den bei den Akten
befindlichen Karten ergibt sich jedoch, daß bestimmte Gebiete, die zu besonderen
Schutzgebieten hätten erklärt werden müssen, wie insbesondere die
Gemeindewiesen von Vouillé, Vix und Ille d'Elle, bei Ablauf der in der mit
Gründen versehenen Stellungnahme gesetzten Frist von zwei Monaten zerstört
waren.
- 46.
- Daraus ergibt sich, daß die Französische Republik nicht alle erforderlichen
Maßnahmen zur Vermeidung der Beeinträchtigung einiger (nicht aber aller)
Gebiete des Sumpfgebiets des Poitou, die zu besonderen Schutzgebieten hätten
erklärt werden müssen, getroffen und somit gegen ihre Verpflichtungen aus Artikel
4 Absatz 4 Satz 1 der Vogelschutzrichtlinie verstoßen hat.
- 47.
- Folglich ist der Klage auch in diesem Punkt in dem in der vorstehenden
Randnummer beschriebenen Umfang stattzugeben.
Zur Umwidmung einer Teilfläche des besonderen Schutzgebiets Marais poitevin
intérieur
- 48.
- Die Kommission trägt vor, daß die französischen Behörden durch Dekret vom 19.
Oktober 1993 das Autobahnprojekt Sainte Hermine-Oulmes genehmigt hätten.
Dieses Projekt habe die französischen Behörden dazu veranlaßt, mit einer
Entscheidung vom 19. April 1994, die der Kommission am 28. Juni 1994 mitgeteilt
worden sei, eine Teilfläche des besonderen Schutzgebiets Marais poitevin intérieur
in Form eines 300 Meter breiten Streifens entlang der geplanten
Autobahndurchquerung des besonderen Schutzgebiets auf der Höhe von Auzay
umzuwidmen.
- 49.
- Nach Auffassung der Kommission führt diese Umwidmung des besonderen
Schutzgebiets nicht nur zu einer Verkleinerung der Fläche des Schutzgebiets,
sondern auch zu einer Belästigung der Vögel im entsprechenden Sektor infolge der
Bauarbeiten und der Abtrennung des östlich des Projekts in Richtung Fontenay-le-Comte gelegenen Teils des besonderen Schutzgebiets, der durch die Autobahn
vollständig vom übrigen besonderen Schutzgebiet abgeschnitten würde.
- 50.
- Die Umwidmung stelle daher eine Verletzung der Verpflichtungen dar, die sich
seinerzeit aus Artikel 4 Absatz 4 der Vogelschutzrichtlinie in der Auslegung des
Gerichtshofes (Urteile vom 28. Februar 1991 in der Rechtssache C-57/89,
Kommission/Deutschland, Slg. 1991, I-993, Randnrn. 20 bis 22, und vom 2. August
1993 in der Rechtssache Kommission/Spanien, Randnr. 35) ergeben hätten.
- 51.
- Die französische Regierung hält dem entgegen, daß die Autobahnstrecke Sainte
Hermine-Oulmes nicht zu einer Umwidmung des besonderen Schutzgebiets Marais
poitevin intérieur geführt habe. Die Erklärung dieses Gebiets zum besonderen
Schutzgebiet sei im November 1993 erfolgt und liege damit zeitlich nach den
Studien zur Ausarbeitung des Autobahnprojekts und nach dem Dekret, mit dem
die für die Durchführung erforderlichen Arbeiten als gemeinnützig und eilbedürftig
erklärt worden seien. Die letztlich gewählte Streckenführung habe alle Gebiete
umgangen, die die französische Regierung zu besonderen Schutzgebieten zu
erklären beabsichtigt habe.
- 52.
- Bei der Anzeige des besonderen Schutzgebiets Marais poitevin intérieur an die
Kommission im November 1993 sei irrtümlich eine 300 Meter breite Zone in das
Schutzgebiet miteinbezogen worden. Die französischen Behörden hätten diesen
Irrtum nach seiner Entdeckung unverzüglich der Kommission mitgeteilt. Daher
liege keine Umwidmung vor, sondern lediglich die Berichtigung eines
Übermittlungsfehlers; das fragliche Gebiet sei nicht zur Erklärung zum besonderen
Schutzgebiet bestimmt gewesen.
- 53.
- Ein Verstoß gegen Artikel 4 Absatz 4 der Vogelschutzrichtlinie durch die
Umwidmung einer Teilfläche eines durch einen Rechtsakt zum besonderen
Schutzgebiet erklärten Gebietes infolge der Verkleinerung der Fläche des
Schutzgebiets kann nur dann vorliegen, wenn die betreffende Fläche zumindest zu
dem besonderen Schutzgebiet gehört hat.
- 54.
- Es ist jedoch unbestritten, daß das Dekret, mit dem die Bauarbeiten für die Strecke
Sainte Hermine-Oulmes als gemeinnützig und eilbedürftig erklärt und die
entsprechende Anpassung der Bebauungspläne der betroffenen Gemeinden
durchgeführt wurde, am 19. Oktober 1993 erlassen wurde, und daß ihm öffentliche
Anhörungsverfahren und Untersuchungen, darunter eine
Umweltverträglichkeitsprüfung nach der Richtlinie 85/337/EWG des Rates vom 27.
Juni 1985 über die Umweltverträglichkeitsprüfung bei bestimmten öffentlichen und
privaten Projekten (ABl. L 175, S. 40), vorangegangen sind. Außerdem wird die
Behauptung der französischen Regierung, das besondere Schutzgebiet Marais
poitevin intérieur sei im November 1993 eingerichtet worden, durch die mit
Gründen versehene Stellungnahme der Kommission bestätigt.
- 55.
- Somit wurde der zum Autobahnbau bestimmte Grundstücksstreifen, wie die
französische Regierung vorgetragen hat, bei der Anzeige des besonderen
Schutzgebiets Marais poitevin intérieur an die Kommission irrtümlich als Teil des
Schutzgebiets ausgewiesen; die im Schreiben vom 19. April 1994 enthaltene, an den
Präfekten der Region Pays de la Loire gerichtete Erklärung des Umweltministers,
daß 5das Autobahngelände ... als außerhalb des besonderen Schutzgebiets gelegen
anzusehen ist", stellte keine Verkleinerung der Fläche des eingerichteten
besonderen Schutzgebiets, sondern lediglich die Berichtigung eines
Übermittlungsfehlers gegenüber der Kommission dar.
- 56.
- Folglich ist die Rüge eines Verstoßes gegen Artikel 4 Absatz 4 der
Vogelschutzrichtlinie durch die Umwidmung einer Teilfläche des besonderen
Schutzgebiets Marais poitevin intérieur infolge der Verkleinerung der Fläche des
Schutzgebiets zurückzuweisen.
- 57.
- Nach alledem ist festzustellen, daß die Französische Republik dadurch gegen ihre
Verpflichtungen aus Artikel 4 der Vogelschutzrichtlinie verstoßen hat, daß sie nicht
innerhalb der vorgeschriebenen Frist eine ausreichend große Fläche im
Sumpfgebiet des Poitou zum besonderen Schutzgebiet erklärt hat, daß sie keine
Maßnahmen getroffen hat, um den im Sumpfgebiet des Poitou eingerichteten
besonderen Schutzgebieten einen ausreichenden rechtlichen Schutzstatus zu
verleihen, und daß sie keine geeigneten Maßnahmen getroffen hat, um die
Beeinträchtigung der im Sumpfgebiet des Poitou zum besonderen Schutzgebiet
erklärten Gebiete und eines Teils der Gebiete, die zu besonderen Schutzgebieten
hätten erklärt werden müssen, zu vermeiden.
- 58.
- Im übrigen ist die Klage abzuweisen.
Kosten
- 59.
- Nach Artikel 69 § 2 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei zur
Tragung der Kosten des Verfahrens zu verurteilen. Da die Französische Republik
mit ihrem Vorbringen im wesentlichen unterlegen ist, sind ihr die Kosten
aufzuerlegen.
Aus diesen Gründen
hat
DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)
für Recht erkannt und entschieden:
1.Die Französische Republik hat dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus
Artikel 4 der Richtlinie 79/409/EWG des Rates vom 2. April 1979 über die
Erhaltung der wildlebenden Vogelarten verstoßen, daß sie nicht innerhalb
der vorgeschriebenen Frist eine ausreichend große Fläche im Sumpfgebiet
des Poitou zum besonderen Schutzgebiet erklärt hat, daß sie keine
Maßnahmen getroffen hat, um den im Sumpfgebiet des Poitou
eingerichteten besonderen Schutzgebieten einen ausreichenden rechtlichen
Schutzstatus zu verleihen, und daß sie keine geeigneten Maßnahmen
getroffen hat, um die Beeinträchtigung der im Sumpfgebiet des Poitou zum
besonderen Schutzgebiet erklärten Gebiete und eines Teils der Gebiete, die
zu besonderen Schutzgebieten hätten erklärt werden müssen, zu vermeiden.
2.Im übrigen wird die Klage abgewiesen.
3.Die Französische Republik trägt die Kosten des Verfahrens.
SevónGulmann
Puissochet
Jann Wathelet
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Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 25. November 1999.
Der Kanzler
Der Präsident der Fünften Kammer
R. Grass
D. A. O. Edward