URTEIL DES GERICHTSHOFES (Fünfte Kammer)
21. Januar 1999 (1)
5Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats - Richtlinie 85/337/EWG"
In der Rechtssache C-150/97
Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch Francisco de
Sousa Fialho, Juristischer Dienst, als Bevollmächtigten, Zustellungsbevollmächtigter:
Carlos Gómez de la Cruz, Juristischer Dienst, Centre Wagner,
Luxemburg-Kirchberg,
gegen
Portugiesische Republik, vertreten durch Luís Fernandes, Direktor des Juristischen
Dienstes der Generaldirektion für Angelegenheiten der Europäischen Union, und
Pedro Portugal, Berater der Direktion für Umweltfragen, als Bevollmächtigte, rua
da Cova da Moura Nr. 1, Lissabon,
wegen Feststellung, daß die Portugiesische Republik dadurch gegen ihre
Verpflichtungen aus Artikel 189 Absatz 3 EG-Vertrag und aus Artikel 12 der
Richtlinie 85/337/EWG des Rates vom 27. Juni 1985 über die
Umweltverträglichkeitsprüfung bei bestimmten öffentlichen und privaten Projekten
(ABl. L 175, S. 40) verstoßen hat, daß sie nicht innerhalb der festgesetzten Frist die
erforderlichen Rechts- und Verwaltungsvorschriften erlassen hat, um dieser
Richtlinie vollständig und korrekt nachzukommen,
erläßt
DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten J.-P. Puissochet sowie der Richter
J. C. Moitinho de Almeida, C. Gulmann, L. Sevón (Berichterstatter) und
M. Wathelet,
Generalanwalt: J. Mischo
Kanzler: R. Grass
aufgrund des Berichts des Berichterstatters,
nach Anhörung der Schlußanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 13.
Oktober 1998,
folgendes
Urteil
- 1.
- Die Kommission der Europäischen Gemeinschaften hat mit Klageschrift, die am
17. April 1997 bei der Kanzlei des Gerichtshofes eingegangen ist, gemäß Artikel
169 EG-Vertrag Klage erhoben auf Feststellung, daß die Portugiesische Republik
dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Artikel 189 Absatz 3 EG-Vertrag und aus
Artikel 12 der Richtlinie 85/337/EWG des Rates vom 27. Juni 1985 über die
Umweltverträglichkeitsprüfung bei bestimmten öffentlichen und privaten Projekten
(ABl. L 175, S. 40; im folgenden: Richtlinie) verstoßen hat, daß sie nicht innerhalb
der festgesetzten Frist die erforderlichen Rechts- und Verwaltungsvorschriften
erlassen hat, um dieser Richtlinie vollständig und korrekt nachzukommen.
- 2.
- Nach Artikel 12 Absatz 1 der Richtlinie hatten die Mitgliedstaaten die
erforderlichen Maßnahmen zu treffen, um der Richtlinie innerhalb von drei Jahren
nach ihrer Bekanntgabe, die am 3. Juli 1985 erfolgt ist, nachzukommen.
- 3.
- Obwohl die Portugiesische Republik den Europäischen Gemeinschaften erst mit
Wirkung vom 1. Januar 1986 beigetreten ist, war sie nach den Artikeln 392 und 395
der Akte über die Bedingungen des Beitritts des Königreichs Spanien und der
Portugiesischen Republik und die Anpassungen der Verträge (ABl. 1985, L 302,
S. 23) verpflichtet, die zur Durchführung der Richtlinie erforderlichen Maßnahmen
spätestens am 3. Juli 1988 in Kraft zu setzen.
- 4.
- Die portugiesische Regierung übermittelte der Kommission Bestimmungen, die
ihrer Meinung nach die Umsetzung der Richtlinie sicherstellten, nämlich
-das Gesetz Nr. 11/87 vom 7. April 1987 (Rahmengesetz über die Umwelt),
-das Decreto-Lei Nr. 186/90 vom 6. Juni 1990,
-das Decreto regulamentar Nr. 38/90 vom 27. November 1990 und
-das Decreto regulamentar Nr. 14/91/M vom 16. August 1991 mit den
notwendigen Anpassungen für die Durchführung des Decreto-Lei Nr. 186/90
und des Decreto regulamentar Nr. 38/90 in der Region Madeira.
- 5.
- Da die Kommission jedoch der Auffassung war, daß diese Bestimmungen nicht die
vollständige Umsetzung der Richtlinie gewährleisteten, teilte sie der portugiesischen
Regierung die Gründe für ihre Auffassung mit und forderte sie mit Schreiben vom
25. Januar 1993 zur Äußerung binnen zwei Monaten auf.
- 6.
- Die portugiesische Regierung übersandte der Kommission ihre Erklärungen und
verwies insbesondere auf den Erlaß einer neuen Regelung.
- 7.
- Die Kommission, die der Ansicht war, daß diese neue Regelung eine teilweise
Umsetzung der Richtlinie gewährleistete, ließ einen Teil ihrer Rügen fallen, richtete
jedoch am 6. August 1996 eine mit Gründen versehene Stellungnahme mit den
Rügen, die sie aufrechterhielt, an die Portugiesische Republik.
- 8.
- Die Portugiesische Republik teilte der Kommission mit Schreiben vom 17.
Dezember 1996 mit, daß eine Arbeitsgruppe errichtet worden sei, die die zur
Lösung der von der Kommission aufgeworfenen Probleme erforderlichen
Rechtsvorschriften ausarbeiten solle.
- 9.
- Da die Kommission die angekündigten Rechtsvorschriften nicht erhielt, hat sie die
vorliegende Klage erhoben.
- 10.
- In ihrer Klageschrift hat sie die portugiesische Regelung unter neun
Gesichtspunkten gerügt.
- 11.
- Die Portugiesische Republik übermittelte dem Gerichtshof am 23. Oktober 1997
das Decreto-Lei Nr. 278/97 zur Änderung des Decreto-Lei Nr. 186/90 vom 6. Juni
1990 (Diário da República Nr. 233/97, I Serie A, vom 8. Oktober 1997) sowie das
Decreto regulamentar Nr. 42/97 zur Änderung des Decreto regulamentar Nr. 38/90
vom 27. November 1990 (Diário da República Nr. 235/97, I Serie B, vom 10.
Oktober 1997).
- 12.
- Nach Prüfung dieser nationalen Umsetzungsvorschriften teilte die Kommission dem
Gerichtshof mit Schreiben vom 30. Juni 1998 mit, daß sie die Klage teilweise
zurücknehme und nur noch eine einzige Rüge aufrechterhalte.
- 13.
- Mit dieser Rüge wirft die Kommission der Portugiesischen Republik vor, daß
Artikel 11 Absatz 2 des Decreto-Lei Nr. 186/90 nicht auf Projekte anwendbar sei,
für die das Genehmigungsverfahren zum Zeitpunkt seines Inkrafttretens, d. h. am
7. Juni 1990, bereits eingeleitet gewesen sei, während die Bestimmungen der
Richtlinie nach Artikel 2 Absatz 1 und Artikel 12 Absatz 1 ab 3. Juli 1988 immer
dann angewandt werden müßten, wenn es erforderlich sei, über einen Antrag auf
Genehmigung zu entscheiden. Die Portugiesische Republik könne sich nicht auf
den Grundsatz der Rechtssicherheit berufen, um zu rechtfertigen, daß die neue
Regelung nicht auf noch nicht beschiedene Anträge anwendbar sei, denn solange
die Verwaltungsentscheidung über die vorgelegten Projekte noch nicht ergangen
sei, bestehe kein wohlerworbenes Recht für die Bauherren.
- 14.
- Die Kommission hat in ihrem Schriftsatz über die Klagerücknahme ausgeführt, daß
sich an dieser Lage durch das Decreto-Lei Nr. 278/97 nichts geändert habe. Sie hat
deshalb beantragt, die Vertragsverletzung hinsichtlich dieser Rüge gemäß ihrem
Klageantrag festzustellen.
- 15.
- Die Portugiesische Republik trägt in ihren Erklärungen zur teilweisen
Klagerücknahme vor, daß dem Gesetz nicht im Hinblick auf die Wahrung des
Grundsatzes der Rechtssicherheit Rückwirkung verliehen worden sei, der in Artikel
12 des portugiesischen Bürgerlichen Gesetzbuches verankert sei, wonach Gesetze
nur für die Zukunft gälten. Jede Ausnahme von diesem Grundsatz müsse sorgfältig
erwogen werden, und die gesetzlich geschützten Interessen oder die berechtigten
Erwartungen der Bürger dürften keinesfalls beeinträchtigt werden.
- 16.
- Auch seien die in Artikel 11 des Decreto-Lei Nr. 186/90 genannten Projekte, d. h.
diejenigen, für die die Anträge auf Genehmigung nach dem 3. Juni 1988, aber vor
Inkrafttreten der nationalen Regelung gestellt worden seien, wenig zahlreich
gewesen und alle Gegenstand eines Berichtes über ihre Auswirkungen auf die
Umwelt gewesen.
- 17.
- Zu dem Decreto-Lei Nr. 278/97 trägt die Portugiesische Republik vor, sie sei
darauf bedacht gewesen, nur diejenigen Bestimmungen von der rückwirkenden
Anwendung auszunehmen, die zu einer schweren Beeinträchtigung der Rechte und
berechtigten Erwartungen der Bürger, die den sich aus der fraglichen Regelung
ergebenden Verpflichtungen unterlägen, führen würden.
- 18.
- Der Gerichtshof hat bereits im Urteil vom 9. August 1994 in der Rechtssache
C-396/92 (Bund Naturschutz in Bayern u. a., Slg. 1994, I-3717) entschieden, daß
Artikel 12 Absatz 1 der Richtlinie es nicht gestattet, daß ein Mitgliedstaat, der
diese Richtlinie nach dem 3. Juli 1988, dem Tag des Ablaufs der Umsetzungsfrist,
in seine nationale Rechtsordnung umgesetzt hat, Projekte, für die das
Genehmigungsverfahren vor Inkrafttreten des nationalen Gesetzes zur Umsetzung
dieser Richtlinie, aber nach dem 3. Juli 1988 eingeleitet wurde, durch eine
Übergangsvorschrift von der in der Richtlinie vorgeschriebenen
Umweltverträglichkeitsprüfung ausnimmt (in diesem Sinne auch Urteile vom 11.
August 1995 in der Rechtssache C-431/92, Kommission/Deutschland, Slg. 1995, I-2189, Randnr. 28, vom 18. Juni 1998 in der Rechtssache C-81/96, Gedeputeerde
Staten van Noord-Holland, Slg. 1998, I-3923, Randnrn. 23 bis 28, und vom 22.
Oktober 1998 in der Rechtssache C-301/95, Kommission/Deutschland, Randnr. 29,
noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht).
- 19.
- In der Richtlinie findet sich nämlich kein Anhaltspunkt dafür, daß die
Mitgliedstaaten ermächtigt wären, Projekte, für die das Genehmigungsverfahren
nach dem Stichtag des 3. Juli 1988 eingeleitet wurde, von der
Umweltverträglichkeitsprüfung auszunehmen (Urteile Bund Naturschutz in Bayern
u. a., Randnr. 18, und Gedeputeerde Staten van Noord-Holland, Randnr. 22).
- 20.
- Soweit sich die portugiesische Regierung auf ihre Verpflichtung beruft, den
Grundsatz des Verbotes der rückwirkenden Anwendung von Gesetzen zu wahren,
ist darauf hinzuweisen, daß die Kommission die Feststellung einer
Vertragsverletzung nur noch insoweit beantragt hat, als die Portugiesische Republik
nicht die unmittelbare Anwendung des Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie auf
die Anträge vorgesehen hat, die nach dem 3. Juli 1988 bei der zuständigen
nationalen Behörde gestellt wurden und zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieser
nationalen Regelung noch nicht beschieden waren.
- 21.
- Im übrigen kann sich ein Mitgliedstaat nach ständiger Rechtsprechung nicht auf
Bestimmungen, Übungen oder Umstände seiner internen Rechtsordnung berufen,
um die Nichteinhaltung der in den Gemeinschaftsrichtlinien festgelegten
Verpflichtungen und Fristen zu rechtfertigen (vgl. insbesondere Urteile vom 28.
März 1985 in der Rechtssache C-275/83, Kommission/Belgien, Slg. 1985, I-1097,
Randnr. 10, vom 28. Mai 1998 in der Rechtssache C-298/97, Kommission/Spanien,
Slg. 1998, I-3301, Randnr. 14, und vom 15. Oktober 1998 in der Rechtssache C-326/97, Kommission/Belgien, Randnr. 7, noch nicht in der amtlichen Sammlung
veröffentlicht).
- 22.
- Schließlich ist zu dem Vorbringen, die Anträge auf Genehmigung, die nach dem 3.
Juli 1988, aber vor Inkrafttreten der nationalen Regelung gestellt worden seien,
seien wenig zahlreich gewesen und alle Gegenstand eines Berichtes über ihre
Auswirkungen auf die Umwelt gewesen, daran zu erinnern, daß, auch wenn dieses
Vorbringen zuträfe, der Verstoß eines Mitgliedstaats gegen eine Verpflichtung aus
einer Vorschrift des Gemeinschaftsrechts für sich allein eine Vertragsverletzung
darstellt und die Erwägung, daß dieser Verstoß keine negativen Auswirkungen
gehabt hat, unerheblich ist (Urteil vom 27. November 1990 in der Rechtssache C-209/88, Kommission/Italien, Slg. 1990, I-4313, Randnr. 14).
- 23.
- Sonach ist festzustellen, daß die Portugiesische Republik dadurch gegen ihre
Verpflichtungen aus der Richtlinie verstoßen hat, daß sie eine
Übergangsbestimmung erlassen hat, nach der eine nach dem 3. Juli 1988, dem
Zeitpunkt des Ablaufs der Frist für die Umsetzung der Richtlinie, erlassene
nationale Umsetzungsregelung nicht auf Projekte anwendbar ist, für die das
Genehmigungsverfahren vor Inkrafttreten des nationalen Gesetzes zur Umsetzung
der Richtlinie, aber nach dem 3. Juli 1988 eingeleitet wurde.
Kosten
- 24.
- Nach Artikel 69 § 2 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei auf Antrag
zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Nach Artikel 69 § 5 werden die Kosten im
Fall der Klagerücknahme auf Antrag der Partei, die die Rücknahme erklärt, der
Gegenpartei auferlegt, wenn dies wegen des Verhaltens dieser Partei gerechtfertigt
erscheint.
- 25.
- Die Kommission beantragt, trotz ihrer teilweisen Klagerücknahme die Kosten der
Portugiesischen Republik aufzuerlegen, da die teilweise Klagerücknahme wegen des
Verhaltens der Portugiesischen Republik gerechtfertigt gewesen sei.
- 26.
- Da die teilweise Klagerücknahme der Kommission durch das Verhalten der
Portugiesischen Republik gerechtfertigt war, die nach Klageerhebung eine Regelung
zur Umsetzung der Richtlinie erlassen hat, und da dieser Mitgliedstaat mit seinem
Verteidigungsvorbringen zu der nach der Klagerücknahme noch streitigen Rüge
unterlegen ist, sind der Portugiesischen Republik die Kosten aufzuerlegen.
Aus diesen Gründen
hat
DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)
für Recht erkannt und entschieden:
1.Die Portugiesische Republik hat dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus
der Richtlinie 85/337/EWG des Rates vom 27. Juni 1985 über die
Umweltverträglichkeitsprüfung bei bestimmten öffentlichen und privaten
Projekten verstoßen, daß sie eine Übergangsbestimmung erlassen hat, nach
der eine nach dem 3. Juli 1988, dem Zeitpunkt des Ablaufs der Frist für die
Umsetzung dieser Richtlinie, erlassene nationale Umsetzungsregelung nicht
auf Projekte anwendbar ist, für die das Genehmigungsverfahren vor
Inkrafttreten des nationalen Gesetzes zur Umsetzung dieser Richtlinie, aber
nach dem 3. Juli 1988 eingeleitet wurde.
2.Die Portugiesische Republik trägt die Kosten des Verfahrens.
PuissochetMoitinho de Almeida
Gulmann
SevónWathelet
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Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 21. Januar 1999.
Der Kanzler
Der Präsident der Fünften Kammer
R. Grass
J.-P. Puissochet