URTEIL DES GERICHTSHOFES
19. Mai 1998 (1)
5Erhaltung der wildlebenden Vogelarten - Besondere Schutzgebiete"
In der Rechtssache C-3/96
Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch W. Wils,
Juristischer Dienst, als Bevollmächtigten, Zustellungsbevollmächtigter: C. Gómez
de la Cruz, Juristischer Dienst, Centre Wagner, Luxemburg-Kirchberg,
gegen
Königreich der Niederlande, vertreten durch M. A. Fierstra und J. S. van den
Oosterkamp, beigeordnete Rechtsberater im Ministerium für Auswärtige
Angelegenheiten, als Bevollmächtigte, Zustellungsanschrift: Niederländische
Botschaft, 5, rue C. M. Spoo, Luxemburg,
unterstützt durch
Bundesrepublik Deutschland, vertreten durch Ministerialrat E. Röder und
Regierungsrätin S. Maaß, Bundesministerium für Wirtschaft, D-53107 Bonn, als
Bevollmächtigte,
wegen Feststellung, daß das Königreich der Niederlande dadurch gegen seine
Verpflichtungen aus der Richtlinie 79/409/EWG des Rates vom 2. April 1979 über
die Erhaltung der wildlebenden Vogelarten (ABl. L 103, S. 1) und aus den Artikeln
5 und 189 EG-Vertrag verstoßen hat, daß es nicht in ausreichendem Maß
besondere Schutzgebiete im Sinne von Artikel 4 Absatz 1 dieser Richtlinie
ausgewiesen hat,
erläßt
DER GERICHTSHOF
unter Mitwirkung des Präsidenten G. C. Rodríguez Iglesias, der
Kammerpräsidenten C. Gulmann (Berichterstatter), H. Ragnemalm, M. Wathelet
und R. Schintgen sowie der Richter J. C. Moitinho de Almeida, P. J. G. Kapteyn,
J. L. Murray, D. A. O. Edward, G. Hirsch und P. Jann,
Generalanwalt: N. Fennelly
Kanzler: H. von Holstein, Hilfskanzler
aufgrund des Sitzungsberichts,
nach Anhörung der Parteien in der Sitzung vom 15. Juli 1997,
nach Anhörung der Schlußanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 9.
Oktober 1997,
folgendes
Urteil
- 1.
- Die Kommission der Europäischen Gemeinschaften hat mit Klageschrift, die am
5. Januar 1996 bei der Kanzlei des Gerichtshofes eingegangen ist, gemäß Artikel
169 EG-Vertrag Klage erhoben auf Feststellung, daß das Königreich der
Niederlande dadurch gegen seine Verpflichtungen aus der Richtlinie 79/409/EWG
des Rates vom 2. April 1979 über die Erhaltung der wildlebenden Vogelarten (ABl.
L 103, S. 1; im folgenden: Richtlinie) und aus den Artikeln 5 und 189 EG-Vertrag
verstoßen hat, daß es nicht in ausreichendem Maß besondere Schutzgebiete im
Sinne von Artikel 4 Absatz 1 dieser Richtlinie ausgewiesen hat.
- 2.
- Mit Beschluß des Präsidenten vom 15. Juli 1996 ist die Bundesrepublik Deutschland
als Streithelferin zur Unterstützung der Anträge des Beklagten zugelassen worden.
- 3.
- Artikel 2 der Richtlinie sieht folgendes vor: 5Die Mitgliedstaaten treffen die
erforderlichen Maßnahmen, um die Bestände aller unter Artikel 1 fallenden
[wildlebenden] Vogelarten [, die im europäischen Gebiet der Mitgliedstaaten, auf
das der Vertrag Anwendung findet, heimisch sind,] auf einem Stand zu halten oder
auf einen Stand zu bringen, der insbesondere den ökologischen, wissenschaftlichen
und kulturellen Erfordernissen entspricht, wobei den wirtschaftlichen und
freizeitbedingten Erfordernissen Rechnung getragen wird."
- 4.
- Artikel 3 der Richtlinie bestimmt:
5(1) Die Mitgliedstaaten treffen unter Berücksichtigung der in Artikel 2
genannten Erfordernisse die erforderlichen Maßnahmen, um für alle unter Artikel
1 fallenden Vogelarten eine ausreichende Vielfalt und eine ausreichende
Flächengröße der Lebensräume zu erhalten oder wieder herzustellen.
(2) Zur Erhaltung und Wiederherstellung der Lebensstätten und Lebensräume
gehören insbesondere folgende Maßnahmen:
a) Einrichtung von Schutzgebieten,
b) Pflege und ökologisch richtige Gestaltung der Lebensräume in und
außerhalb von Schutzgebieten,
c) Wiederherstellung zerstörter Lebensstätten,
d) Neuschaffung von Lebensstätten."
- 5.
- Artikel 4 Absatz 1 der Richtlinie lautet wie folgt:
5(1) Auf die in Anhang I aufgeführten Arten sind besondere Schutzmaßnahmen
hinsichtlich ihrer Lebensräume anzuwenden, um ihr Überleben und ihre
Vermehrung in ihrem Verbreitungsgebiet sicherzustellen.
In diesem Zusammenhang ist folgendes zu berücksichtigen:
a) vom Aussterben bedrohte Arten,
b) gegen bestimmte Veränderungen ihrer Lebensräume empfindliche Arten,
c) Arten, die wegen ihres geringen Bestands oder ihrer beschränkten örtlichen
Verbreitung als selten gelten,
d) andere Arten, die aufgrund des spezifischen Charakters ihres Lebensraums
einer besonderen Aufmerksamkeit bedürfen.
Bei den Bewertungen werden Tendenzen und Schwankungen der Bestände der
Vogelarten berücksichtigt.
Die Mitgliedstaaten erklären insbesondere die für die Erhaltung dieser Arten
zahlen- und flächenmäßig geeignetsten Gebiete zu Schutzgebieten, wobei die
Erfordernisse des Schutzes dieser Arten in dem geographischen Meeres- und
Landgebiet, in dem diese Richtlinie Anwendung findet, zu berücksichtigen sind."
- 6.
- Anhang I der Richtlinie wurde durch den Anhang der Richtlinie 85/411/EWG der
Kommission vom 25. Juli 1985 zur Änderung von Anhang I der Richtlinie 79/409
(ABl. L 233, S. 33) ersetzt.
- 7.
- Da die Kommission der Auffassung war, daß das Königreich der Niederlande nicht
in ausreichendem Maß besondere Schutzgebiete für die in Anhang I der Richtlinie
aufgeführten Vogelarten ausgewiesen habe, forderte sie die niederländische
Regierung am 25. September 1989 auf, sich innerhalb von zwei Monaten zu äußern.
- 8.
- Die niederländische Regierung leugnete den behaupteten Verstoß mit Schreiben
vom 29. Dezember 1989. Sie machte im wesentlichen geltend, daß sie ihren
Verpflichtungen aus Artikel 4 Absatz 1 der Richtlinie nachgekommen sei, da sie
unter Abwägung zwischen dem Interesse an der Erhaltung der geschützten Arten
und den wirtschaftlichen und Freizeitinteressen genug Gebiete, die für die
Erhaltung der in Anhang I genannten Arten geeignet seien, zu besonderen
Schutzgebieten erklärt und auch andere für den Schutz der Vögel geeignete
Maßnahmen eingeführt habe.
- 9.
- Da die Kommission der Ansicht war, daß diese Erklärungen ihren Standpunkt
hinsichtlich der behaupteten Vertragsverletzung nicht ändern konnten, richtete sie
am 14. Juni 1993 eine mit Gründen versehene Stellungnahme an die
niederländische Regierung, in der sie das Königreich der Niederlande aufforderte,
innerhalb von zwei Monaten nach deren Bekanntgabe der Rüge Rechnung zu
tragen, es habe nicht in ausreichendem Maß Gebiete zu besonderen Schutzgebieten
erklärt, um einen wirksamen Schutz der in Anhang I der Richtlinie genannten
Arten zu gewährleisten.
- 10.
- Die niederländische Regierung behauptet, sie habe auf die mit Gründen versehene
Stellungnahme mit Schreiben vom 1. Dezember 1993 geantwortet. Die Kommission
dagegen erklärt, sie habe diese Antwort nie erhalten.
Zur Zulässigkeit
- 11.
- Das Königreich der Niederlande bestreitet aus mehreren Gründen die Zulässigkeit
der Klage.
Zur fehlenden Berücksichtigung der Antwort des Königreichs der Niederlande auf die
mit Gründen versehene Stellungnahme
- 12.
- Die niederländische Regierung macht geltend, die Kommission habe, da sie ihre
Antwort auf die mit Gründen versehene Stellungnahme nicht berücksichtigt habe,
die Verteidigungsrechte nicht beachtet, so daß die Klage unzulässig sei.
- 13.
- Die Kommission entgegnet, daß - selbst wenn sie dieses Schreiben erhalten hätte
- die Nichtberücksichtigung der Antwort der niederländischen Regierung auf die
mit Gründen versehene Stellungnahme in ihrer Klageschrift kein
Unzulässigkeitsgrund sein könne. Die in der mit Gründen versehenen
Stellungnahme festgesetzte Frist solle nur dem Mitgliedstaat, an den die
Stellungnahme gerichtet sei, eine letzte Möglichkeit geben, sich nach dem
Standpunkt der Kommission zu richten. Im übrigen enthalte dieses Schreiben, von
dem sie im vorliegenden Verfahren erfahren habe, als einzigen neuen
Gesichtspunkt die Angabe, daß in der Zwischenzeit drei zusätzliche Gebiete zu
besonderen Schutzgebieten erklärt worden seien. Dies habe sie in ihrer Klageschrift
jedoch berücksichtigt.
- 14.
- Das in Artikel 169 des Vertrages geregelte Verfahren besteht aus zwei
aufeinanderfolgenden Stadien, nämlich einem vorprozessualen oder
Verwaltungsstadium und einem prozessualen Stadium vor dem Gerichtshof (vgl.
Beschluß vom 11. Juli 1995 in der Rechtssache C-266/94, Kommission/Spanien, Slg.
1995, I-1975, Randnr. 15).
- 15.
- In Artikel 169 Absatz 1 heißt es: 5Hat nach Auffassung der Kommission ein
Mitgliedstaat gegen eine Verpflichtung aus diesem Vertrag verstoßen, so gibt sie
eine mit Gründen versehene Stellungnahme hierzu ab; sie hat dem Staat zuvor
Gelegenheit zur Äußerung zu geben."
- 16.
- Ziel des vorprozessualen Verfahrens ist es also, dem Mitgliedstaat Gelegenheit zu
geben, seinen Standpunkt zu rechtfertigen, oder ihm gegebenenfalls zu
ermöglichen, freiwillig den Anforderungen des Vertrages nachzukommen. Bleibt
dieses Schlichtungsbemühen erfolglos, so wird der Mitgliedstaat aufgefordert, seinen
Verpflichtungen, die in der mit Gründen versehenen und das vorprozessuale
Verfahren des Artikels 169 abschließenden Stellungnahme genau angegeben sind,
innerhalb der in dieser Stellungnahme festgesetzten Frist nachzukommen (vgl. u. a.
Urteile vom 31. Januar 1984 in der Rechtssache 74/82, Kommission/Irland, Slg.
1984, 317, Randnr. 13, und vom 18. März 1986 in der Rechtssache 85/85,
Kommission/Belgien, Slg. 1986, 1149, Randnr. 11).
- 17.
- Wie der Gerichtshof bereits entschieden hat, stellt der ordnungsgemäße Ablauf des
vorprozessualen Verfahrens eine vom Vertrag gewollte wesentliche Garantie nicht
nur für den Schutz der Rechte des betroffenen Mitgliedstaats, sondern auch dafür
dar, daß das eventuelle gerichtliche Verfahren einen klar definierten Rechtsstreit
zum Gegenstand hat (vgl. Beschluß Kommission/Spanien, a. a. O., Randnr. 17, und
Urteil vom 23. Oktober 1997 in der Rechtssache C-159/94, Kommission/Frankreich,
Slg. 1997, I-5815, Randnr. 15).
- 18.
- Der Gegenstand einer Vertragsverletzungsklage wird durch die mit Gründen
versehene Stellungnahme der Kommission bestimmt (vgl. Urteil vom 17. Juni 1987
in der Rechtssache 154/85, Kommission/Italien, Slg. 1987, 2717, Randnr. 6).
- 19.
- Die Ordnungsmäßigkeit der mit Gründen versehenen Stellungnahme und des ihr
vorausgegangenen Verfahrens wird im vorliegenden Fall nicht bestritten.
- 20.
- Daher sind die Verteidigungsrechte des betroffenen Mitgliedstaats selbst dann nicht
verletzt, wenn das gerichtliche Verfahren durch eine Klage der Kommission
eingeleitet worden ist, in der mögliche neue Gesichtspunkte tatsächlicher oder
rechtlicher Art, die der Staat in seiner Antwort auf die mit Gründen versehene
Stellungnahme vorgebracht hat, nicht berücksichtigt werden. Der Staat kann
nämlich im Rahmen des gerichtlichen Verfahrens die betreffenden Gesichtspunkte
bereits in seinem ersten Verteidigungsschriftsatz uneingeschränkt geltend machen.
Es ist dann Aufgabe des Gerichtshofes, ihre Erheblichkeit für die Entscheidung
über die Vertragverletzungsklage zu prüfen.
- 21.
- Dieser erste Unzulässigkeitsgrund ist daher zurückzuweisen.
Zur Art der Verpflichtung aus Artikel 4 Absatz 1 der Richtlinie
- 22.
- Die niederländische Regierung macht zweitens geltend, daß der angebliche Verstoß
nicht aus einer einzigen Handlung oder Unterlassung bestehe, sondern aus einer
Reihe von Verstößen gegen die Verpflichtung, einzelne Entscheidungen über die
Ausweisung von besonderen Schutzgebieten zu treffen. Um die Verteidigungsrechte
zu gewährleisten, sei es rechtlich unerläßlich, Verstöße gegen Artikel 4 Absatz 1
der Richtlinie für das jeweilige Gebiet festzustellen. Die niederländische Regierung
macht im wesentlichen geltend, daß die Kommission ihr vorwerfe, allgemein gegen
ihre Verpflichtungen aus Artikel 4 Absatz 1 der Richtlinie verstoßen zu haben,
ohne daß sie zuvor eine kontradiktorische Verhandlung über die der Klage
zugrunde liegenden speziellen Rügen eingeleitet habe.
- 23.
- Nach Ansicht der Kommission kann nicht behauptet werden, daß die Verstöße
gegen Artikel 4 Absatz 1 der Richtlinie nur für das jeweilige Gebiet festgestellt
werden könnten. Ein Verstoß könne ebenso gut festgestellt werden, wenn sich
zeige, daß ein Mitgliedstaat offensichtlich weit weniger Lebensräume zu besonderen
Schutzgebieten erklärt habe, als nach ornithologischen Kriterien erforderlich sei.
- 24.
- Wie der Generalanwalt in Nummer 14 seiner Schlußanträge bemerkt hat, ist dieser
Unzulässigkeitsgrund, da er mit der richtigen Auslegung von Artikel 4 Absatz 1 der
Richtlinie zusammenhängt und das Wesen der Rügen der Kommission betrifft, im
Rahmen der Begründetheit zu prüfen.
Zu den neuen Gesichtspunkten
- 25.
- Die niederländische Regierung macht drittens geltend, die Kommission habe die
Rüge, daß die Gesamtfläche und die Qualität der zu besonderen Schutzgebieten
erklärten Gebiete unzureichend seien, sowie die speziellen Rügen, daß die
friesische Ijsselmeerküste und die Hooge Platen an der Westerschelde nicht
ausgewiesen worden seien, erstmals im Stadium der Klageschrift erhoben und den
beklagten Staat so daran gehindert, im vorprozessualen Stadium zu reagieren. Das
gleiche gelte für die Rüge, daß die Süßwasserseen und -sumpfgebiete sowie die
Heidegebiete nur in sehr begrenztem Ausmaß zu besonderen Schutzgebieten
erklärt worden seien. Diese Rügen seien daher unzulässig.
- 26.
- Ferner dürfe die Studie über die ornithologisch wichtigen Gebiete in den
Niederlanden (Review of Areas Important for Birds in the Netherlands vom
Dezember 1994; im folgenden: IBA 94), die veröffentlicht worden sei, nachdem die
mit Gründen versehene Stellungnahme an die niederländische Regierung abgesandt
worden sei, im vorliegenden Verfahren nicht berücksichtigt werden, da sie sich zu
ihr im vorprozessualen Verfahren nicht habe äußern können.
- 27.
- Die Kommission entgegnet, daß die angeblich neuen Klagegründe in Wirklichkeit
nur Beispiele oder Weiterentwicklungen ein und desselben, seit Beginn des
Verfahrens ständig geltend gemachten Klagegrundes seien, wonach das Königreich
der Niederlande nicht in ausreichendem Maß besondere Schutzgebiete gemäß
Artikel 4 Absatz 1 der Richtlinie ausgewiesen habe. Diese Bestimmung enthalte,
soweit danach die Mitgliedstaaten die Gebiete zu besonderen Schutzgebieten
erklären müßten, die zahlen- und flächenmäßig für die Erhaltung der in Anhang
I der Richtlinie aufgeführten Arten am geeignetsten seien, eine nicht nur
quantitative, sondern auch qualitative Verpflichtung in dem Sinne, daß jeder
Mitgliedstaat aufgrund der in dieser Bestimmung normierten Erfolgspflicht an Zahl,
Fläche und Vielfalt in ausreichendem Maß besondere Schutzgebiete ausweisen
müsse, um das Überleben und die Vermehrung aller in Anhang I genannten
Vogelarten, die in seinem Gebiet vorkämen, sicherzustellen.
- 28.
- Die Kommission macht ferner geltend, sie habe ihre Behauptungen unter
Heranziehung der 1989 veröffentlichten ornithologischen Studie (Inventory of
Important Bird Areas in the European Community vom Juli 1989; im folgenden:
IBA 89) und, rein ergänzend, des IBA 94 belegt.
- 29.
- Soweit die Klage Rügen betrifft, die nicht Gegenstand des vorprozessualen
Verfahrens waren, ist sie unzulässig (in diesem Sinne Urteile vom 14. Juli 1988 in
der Rechtssache 298/86, Kommission/Belgien, Slg. 1988, 4343, Randnr. 10, und vom
25. April 1996 in der Rechtssache C-274/93, Kommission/Luxemburg, Slg. 1996,
I-2019, Randnr. 11).
- 30.
- Im vorliegenden Fall hat die Kommission sowohl im Mahnschreiben als auch in der
mit Gründen versehenen Stellungnahme ausdrücklich auf die Pflicht des
Königreichs der Niederlande Bezug genommen, sicherzustellen, daß die Zahl und
die Größe der in den Mitgliedstaaten ausgewiesenen Gebiete Artikel 4 Absatz 1
der Richtlinie entsprechen. Daher ist der Unzulässigkeitsgrund zurückzuweisen,
soweit er die Rüge betrifft, daß das Königreich der Niederlande keine ausreichende
Gesamtfläche von besonderen Schutzgebieten ausgewiesen habe.
- 31.
- Zur Rüge der qualitativen Unzulänglichkeit der im Königreich der Niederlande
ausgewiesenenen besonderen Schutzgebiete, die die Kommission mit der
Behauptung präzisiert hat, daß die Süßwasserseen und -sumpfgebiete sowie die
Heidegebiete nur in begrenztem Ausmaß zu besonderen Schutzgebieten erklärt
worden seien, ist festzustellen, daß die Mitgliedstaaten zwar, um Artikel 4 Absatz
1 nachzukommen, quantitativ und qualitativ in ausreichendem Maß Gebiete zu
besonderen Schutzgebieten erklären müssen, um die Erhaltung der in Anhang I
aufgeführten Arten sicherzustellen; daraus folgt jedoch nicht, daß die Rüge, daß ein
Mitgliedstaat nicht in ausreichendem Maß besondere Schutzgebiete gemäß dieser
Vorschrift ausgewiesen habe, notwendig auch den qualitativen Aspekt dieser
Verpflichtung umfaßt.
- 32.
- Im vorprozessualen Stadium hat die Kommission ihre Rüge gegenüber dem
Königreich der Niederlande auf eine angebliche Unzulänglichkeit von Zahl und
Größe der von diesem Mitgliedstaat zu besonderen Schutzgebieten erklärten
Gebiete, also auf eine quantitative Unzulänglichkeit, gestützt. Dagegen ist die
angebliche qualitative Unzulänglichkeit der von diesem Staat ausgewiesenen
besonderen Schutzgebiete vorliegend erstmals bei der Einleitung des gerichtlichen
Verfahrens geltend gemacht worden.
- 33.
- Die Klage ist daher insoweit für unzulässig zu erklären.
- 34.
- Die Bezugnahmen auf die friesische Ijsselmeerküste und die Hooge Platen an der
Westerschelde stellen keine selbständige neue Rüge dar, da sie nur Beispiele sind,
mit denen der behauptete Verstoß veranschaulicht werden soll und die dem
Verzeichnis der nach Auffassung der Kommission für die Ausweisung als besondere
Schutzgebiete geeigneten Gebiete entnommen sind, das dem Mahnschreiben und
der mit Gründen versehenen Stellungnahme beigefügt war. Diese Bezugnahmen
sind somit zulässig, da sie nicht verlangen, daß der Gerichtshof speziell zu der
Frage Stellung nimmt, ob diese beiden Gebiete zu besonderen Schutzgebieten
erklärt werden müssen.
- 35.
- Bezüglich der Bezugnahme auf das IBA 94 ist erstens festzustellen, daß diese
Studie, die vom Dezember 1994 datiert, ein Verzeichnis der Gebiete enthält, die
nach von der Kommission akzeptierten wissenschaftlichen Kriterien in den
Niederlanden zu besonderen Schutzgebieten zu erklären sind.
- 36.
- Zweitens ist das Vorliegen einer Vertragsverletzung anhand der Lage zu beurteilen,
in der sich der Mitgliedstaat bei Ablauf der in der mit Gründen versehenen
Stellungnahme gesetzten Frist befand; später eingetretene Änderungen können vom
Gerichtshof nicht berücksichtigt werden (vgl. u. a. Urteil vom 3. Juli 1997 in der
Rechtssache C-60/96, Kommission/Frankreich, Slg. 1997, I-3827, Randnr. 15).
- 37.
- Die Akte enthält keinen Hinweis darauf, daß sich das IBA 94 auf eine Zeit vor
Ablauf der Frist bezieht, die dem beklagten Staat eingeräumt wurde, um der mit
Gründen versehenen Stellungnahme vom 14. Juni 1993 nachzukommen. Die
vorliegende Klage ist daher jedenfalls insoweit unzulässig, als sie auf das IBA 94
Bezug nimmt, um das Vorliegen des behaupteten Verstoßes gegen die Richtlinie
zu beweisen.
- 38.
- Infolgedessen ist die Klage innerhalb der oben dargestellten Grenzen zulässig.
Zur Begründetheit
- 39.
- Die Kommission weist vorab darauf hin, daß nach Artikel 4 Absatz 1 der Richtlinie
jeder Mitgliedstaat die spezifische Verpflichtung habe, in ausreichendem Maß
besondere Schutzgebiete auszuweisen, um das Überleben und die Vermehrung aller
in Anhang I genannten Vogelarten, die in seinem Gebiet vorkommen,
sicherzustellen.
- 40.
- In den Niederlanden bezeichne das IBA 89 anhand der in dieser Studie
aufgestellten und erläuterten ornithologischen Kriterien 70 Gebiete mit einer
Gesamtfläche von 797 920 Hektar, die geeignet seien, zu besonderen
Schutzgebieten erklärt zu werden.
- 41.
- Das niederländische Ministerium für Landwirtschaft und Fischerei habe sein
eigenes Verzeichnis potentiell geeigneter Gebiete erstellt, das 53 Gebiete mit einer
Gesamtfläche von 398 180 Hektar umfasse. Diese 53 Gebiete entsprächen teilweise
den 57 im IBA 89 genannten Gebieten. Die niederländische Regierung habe aber
keine Erklärungen zu den wissenschaftlichen Kriterien abgegeben, auf denen ihr
Verzeichnis der Gebiete, die zu besonderen Schutzgebieten erklärt werden
könnten, beruhe.
- 42.
- Auf jeden Fall habe das Königreich der Niederlande dadurch, daß es nur 23
Gebiete mit einer Gesamtfläche von 327 602 Hektar zu besonderen Schutzgebieten
erklärt habe, die Grenzen des den Mitgliedstaaten durch Artikel 4 der Richtlinie
eingeräumten Ermessens offensichtlich überschritten.
- 43.
- Zum einen deckten die vom Königreich der Niederlande ausgewiesenen Gebiete
ganz oder teilweise 33 der im IBA 89 genannten Gebiete ab, also weniger als die
Hälfte der Gesamtzahl der Gebiete, die nach dieser wissenschaftlichen Studie
geeignet seien, zu besonderen Schutzgebieten erklärt zu werden, und ihre Zahl
mache nur etwas mehr als die Hälfte der im IBA 89 genannten 57 Gebiete aus, die
die niederländischen Behörden selbst als für die Vögel wichtige Gebiete betrachtet
hätten. Zum anderen sei auch die Gesamtfläche der 23 niederländischen
Schutzgebiete weitgehend unzureichend: 327 602 Hektar im Vergleich zu den
797 920 Hektar der im IBA 89 genannten 70 Gebiete. Da sich allein ein
Schutzgebiet, das Wattenmeer, über 250 000 Hektar erstrecke, umfaßten die
übrigen besonderen Schutzgebiete nur 77 602 Hektar, was für einen angemessenen
Schutz einer großen Zahl von im Anhang I der Richtlinie genannten Vogelarten
nicht ausreiche.
- 44.
- Es liege nämlich ein Verstoß gegen die Verpflichtung zur Ausweisung der Gebiete
vor, wenn ein Mitgliedstaat die Zahl und die Fläche der Gebiete des IBA 89
offensichtlich nicht beachte. Das sei der Fall, wenn ein Mitgliedstaat sowohl in
bezug auf die Zahl der Gebiete als auch auf ihre Gesamtfläche nur die Hälfte der
im IBA 89 verzeichneten Gebiete zu besonderen Schutzgebieten erkläre.
- 45.
- Ein weiterer Hinweis auf die Unzulänglichkeit des Schutzes der in Anhang I der
Richtlinie genannten Vogelarten durch das Königreich der Niederlande ergebe sich
daraus, daß der Bestand von neun dieser Vogelarten um mehr als 50 %
zurückgegangen sei. Besonders signifikant sei insoweit der Rückgang des Bestandes
von Standvogelarten wie Birkhuhn und Rohrdommel.
- 46.
- Die niederländische Regierung macht zunächst geltend, daß die Ausweisung von
besonderen Schutzgebieten nur eine der Maßnahmen sei, mit denen ein
Mitgliedstaat seine Verpflichtung aus Artikel 4 Absatz 1 der Richtlinie, besondere
Schutzmaßnahmen zu treffen, erfüllen könne. Die Mitgliedstaaten könnten dieser
Verpflichtung nämlich auch durch Anwendung anderer Schutzmaßnahmen
nachkommen. Daher könne ein Verstoß gegen diese Vorschrift nur dann vorliegen,
wenn ein Mitgliedstaat keine einzige besondere Schutzmaßnahme erlassen habe.
Die Regierung ist der Auffassung, sie habe die Richtlinie dadurch eingehalten, daß
sie andere in diesem Zusammenhang relevante Erhaltungsmaßnahmen getroffen
habe, wie z. B. das Naturschutzgesetz, die Veräußerung von Gebieten an
Naturschutzorganisationen und Pläne zur ornithologischen Erhaltung.
- 47.
- Die Mitgliedstaaten verfügten über einen bestimmten Ermessensspielraum bei der
Umsetzung von Artikel 4 Absatz 1 der Richtlinie. Im Zusammenhang mit der
Ausweisung von besonderen Schutzgebieten schreibe diese Vorschrift nur die
Ausweisung der geeignetsten Gebiete vor. Die Regelung des Artikels 4 Absatz 1
beruhe daher auf einer konkreten Beurteilung der Frage, ob eine bestimmte
Gegend zu den geeignetsten Gebieten gehöre.
- 48.
- Die Präzedenzfälle, die der Gerichtshof entschieden habe, beträfen alle die Frage,
ob ein Mitgliedstaat eine bestimmte Gegend zum besonderen Schutzgebiet hätte
erklären müssen. Im vorliegenden Fall habe die Kommission nicht dargelegt und
erst recht nicht nachgewiesen, daß das Königreich der Niederlande bei der
Umsetzung von Artikel 4 Absatz 1 der Richtlinie in bestimmten Fällen die Grenzen
seines Ermessens überschritten habe.
- 49.
- Im übrigen müßten die Mitgliedstaaten beim Erlaß besonderer Schutzmaßnahmen
gemäß dieser Bestimmung nicht nur den in der Richtlinie genannten spezifischen
Faktoren Rechnung tragen, sondern gemäß Artikel 2 der Richtlinie auch
wirtschaftlichen und freizeitbedingten Erfordernissen.
- 50.
- Die deutsche Regierung macht unter Berufung auf den Beurteilungsspielraum der
Mitgliedstaaten geltend, daß Artikel 4 Absatz 1 den Mitgliedstaaten die Auswahl
der besonderen Schutzgebiete überlasse und daß allein entscheidend sei, daß die
Gebiete nach Anzahl und Art den Schutzerfordernissen der betroffenen Arten
gerecht würden und im Verbund mit den von den übrigen Mitgliedstaaten
ausgewiesenen Gebieten geeignet seien, ein zusammenhängendes Schutzgebietsnetz
zu knüpfen. Diese Vorschrift verlange nicht die Ausweisung einer bestimmen Zahl
von Gebieten, sondern die Mitgliedstaaten hätten vielmehr darauf zu achten, daß
die geschaffenen Schutzgebiete für die Erhaltung der bedrohten Vogelarten
geeignet seien.
- 51.
- Die niederländische Regierung trägt darüber hinaus vor, sie habe sich für die
Erstellung ihres Verzeichnisses der zu schützenden Gegenden auf drei Kriterien
gestützt, die auch dem IBA 89 zugrunde lägen. Die Anwendung dieser Kriterien
führe jedoch wegen ihres allgemeinen Charakters nicht zu eindeutigen Ergebnissen.
Das erkläre, warum zwischen den Gebieten, die nach dem IBA 89 den Kriterien
des Artikels 4 Absatz 1 der Richtlinie entsprächen, und den Gebieten, die von dem
betreffenden Mitgliedstaat als besondere Schutzgebiete ausgewiesen würden,
Unterschiede bestehen könnten.
- 52.
- Das Kriterium der Kommission, daß die Mitgliedstaaten zahlen- und flächenmäßig
mindestens die Hälfte der im IBA 89 verzeichneten Gebiete als besondere
Schutzgebiete ausweisen müßten, finde sich im übrigen nicht in der Richtlinie.
- 53.
- Die deutsche Regierung macht ferner geltend, daß das IBA 89 nur ein Verzeichnis
der Gebiete enthalte, die nach wissenschaftlichen Kriterien potentiell der Erhaltung
der bedrohten Arten dienen könnten. Dieses Verzeichnis sei jedoch weder in die
Richtlinie aufgenommen worden noch rechtlich verbindlich. Außerdem fehle auf
Gemeinschaftsebene eine Abstimmung sowohl über die dem Verzeichnis zugrunde
liegenden Kriterien als auch über das Verzeichnis selbst. Die Festsetzung eines
Minimums von 50 % ausgewiesener Gegenden sei willkürlich und fachlich nicht
nachvollziehbar.
- 54.
- Die niederländische Regierung trägt schließlich vor, die Feststellung eines
Rückgangs von mehr als 50 % bei neun Arten, ohne die verschiedenen möglichen
Ursachen dafür zu berücksichtigen, genüge nicht, um einen Verstoß des
Königreichs der Niederlande gegen Artikel 4 Absatz 1 der Richtlinie nachzuweisen.
Insbesondere sei der Rückgang beim Birkhuhn die Folge einer verheerenden
Brutzeit, die vermutlich durch atmosphärische Niederschläge aus Quellen außerhalb
der betroffenen Gebiete verursacht worden sei. Was die Rohrdommel betreffe, so
gehe deren Bestand, obwohl 10 % dieser Art in besonderen Schutzgebieten lebe,
wie in allen anderen europäischen Gebieten zurück. Das zeige, daß der Rückgang
dieser Art nicht von der Unzulänglichkeit der im Königreich der Niederlande
getroffenen besonderen Schutzmaßnahmen abhänge.
- 55.
- Erstens ist festzustellen, daß Artikel 4 Absatz 1 der Richtlinie die Mitgliedstaaten
entgegen dem Vorbringen des Königreichs der Niederlande verpflichtet, diejenigen
Gebiete zu besonderen Schutzgebieten zu erklären, die für die Erhaltung der in
Anhang I genannten Arten zahlen- und flächenmäßig am geeignetsten sind, und
daß diese Verpflichtung nicht durch den Erlaß anderer besonderer
Schutzmaßnahmen umgangen werden kann.
- 56.
- Aus dieser Vorschrift in ihrer Auslegung durch den Gerichtshof geht hervor, daß
ein Mitgliedstaat, in dessen Hoheitsgebiet es solche Arten gibt, für diese Arten
insbesondere Schutzgebiete bestimmen muß (vgl. Urteil vom 17. Januar 1991 in der
Rechtssache C-334/89, Kommission/Italien, Slg. 1991, I-93, Randnr. 10).
- 57.
- Eine solche Auslegung der Ausweisungsverpflichtung entspricht im übrigen der
speziell ausgerichteten und verstärkten Schutzregelung, die Artikel 4 der Richtlinie
insbesondere für die in Anhang I aufgezählten Arten vorsieht (vgl. Urteil vom 11.
Juli 1996 in der Rechtssache C-44/95, Royal Society for the Protection of Birds, Slg.
1996, I-3805, Randnr. 23), zumal auch nach Artikel 3 für alle unter die Richtlinie
fallenden Arten zur Erhaltung und Wiederherstellung der Lebensstätten und
Lebensräume u. a. Maßnahmen wie die Einrichtung von Schutzgebieten gehören.
- 58.
- Im übrigen würde, wie der Generalanwalt in Nummer 33 seiner Schlußanträge
ausführt, das Ziel der Bildung eines zusammenhängenden Netzes von besonderen
Schutzgebieten gemäß Artikel 4 Absatz 3 der Richtlinie möglicherweise nicht
erreicht, wenn sich die Mitgliedstaaten der Verpflichtung zur Ausweisung von
besonderen Schutzgebieten entziehen könnten, sofern sie andere besondere
Schutzmaßnahmen für ausreichend halten, um das Überleben und die Vermehrung
der in Anhang I genannten Arten zu gewährleisten.
- 59.
- Zweitens dürfen die in Artikel 2 genannten wirtschaftlichen Erfordernisse bei der
Auswahl und Abgrenzung eines Schutzgebiets nicht berücksichtigt werden (vgl.
Urteil Royal Society for the Protection of Birds, a. a. O., Randnr. 27).
- 60.
- Im übrigen verfügen die Mitgliedstaaten zwar bei der Auswahl der besonderen
Schutzgebiete über einen Ermessensspielraum, doch folgt die Ausweisung dieser
Gebiete bestimmten, in der Richtlinie festgelegten ornithologischen Kriterien (vgl.
Urteil vom 2. August 1993 in der Rechtssache C-355/90, Kommission/Spanien, Slg.
1993, I-4221, Randnr. 26).
- 61.
- Der Ermessensspielraum der Mitgliedstaaten bei der Auswahl der Gebiete, die für
die Ausweisung als besondere Schutzgebiete am geeignetsten sind, bezieht sich
daher nicht darauf, diejenigen Gebiete zu besonderen Schutzgebieten zu erklären,
die nach ornithologischen Kriterien am geeignetsten erscheinen, sondern nur auf
die Anwendung dieser Kriterien für die Bestimmung der Gebiete, die für die
Erhaltung der in Anhang I der Richtlinie aufgeführten Arten am geeignetsten sind.
- 62.
- Folglich sind die Mitgliedstaaten verpflichtet, alle Gegenden zu besonderen
Schutzgebieten zu erklären, die nach ornithologischen Kriterien am geeignetsten
für die Erhaltung der betreffenden Arten erscheinen.
- 63.
- Hat somit ein Mitgliedstaat Gegenden zu besonderen Schutzgebieten erklärt, deren
Zahl und Gesamtfläche offensichtlich unter der Zahl und Gesamtfläche der
Gegenden liegen, die für die Erhaltung der betreffenden Arten als die geeignetsten
angesehen werden, so kann festgestellt werden, daß dieser Mitgliedstaat gegen
seine Verpflichtung aus Artikel 4 Absatz 1 der Richtlinie verstoßen hat.
- 64.
- Der Auffassung des Königreichs der Niederlande, daß die Kommission spezifische
Verstöße gegen diese Vorschrift für das jeweilige Gebiet feststellen müsse, kann
somit nicht gefolgt werden.
- 65.
- Drittens ist daran zu erinnern, daß die niederländische Regierung, auch wenn sie
die wissenschaftliche Zuverlässigkeit des IBA 89 nicht in Zweifel zieht, geltend
macht, daß die Anwendung der dieser Studie zugrunde liegenden Kriterien wegen
deren allgemeinen Charakters nicht zu eindeutigen Ergebnissen bei der Ausweisung
besonderer Schutzgebiete führen könne. Die Regierung hat vorgetragen, sie sei
aufgrund der Kriterien, die auch dem IBA 89 zugrunde lägen, in ihrem Verzeichnis
der potentiellen besonderen Schutzgebiete zu einem ganz anderen als dem in dieser
Studie befürworteten Ergebnis gelangt. In der mündlichen Verhandlung hat sie
jedoch eingeräumt, daß sich ihre Kriterien von denen des IBA 89 unterschieden.
- 66.
- Dazu ist festzustellen, daß das Königreich der Niederlande bis heute kein
Schriftstück des nationalen Verfahrens zur Ausweisung der besonderen
Schutzgebiete vorgelegt hat, das die Kriterien angibt, die bei der Ausweisung der
besonderen Schutzgebiete in diesem Mitgliedstaat ausschlaggebend waren.
- 67.
- Außerdem hat das Königreich der Niederlande während des gesamten
vorprozessualen Verfahrens sowie in seiner Klagebeantwortung und seiner
Gegenerwiderung hervorgehoben, daß es bei der Ausweisung der besonderen
Schutzgebiete gemäß Artikel 2 der Richtlinie wirtschaftlichen und freizeitbedingten
Erfordernissen Rechnung tragen müsse. Dieser Standpunkt verträgt sich jedoch
nicht mit der Erklärung der niederländischen Regierung, daß sie bei der
Ausweisung der besonderen Schutzgebiete ausschließlich ornithologische Kriterien
angewandt habe.
- 68.
- In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, daß das IBA 89 ein Verzeichnis
der Gebiete, die für die Erhaltung der wildlebenden Vogelarten in der
Gemeinschaft von großer Bedeutung sind, enthält, das von der Europäischen
Gruppe für die Erhaltung der Vögel und der Lebensräume gemeinsam mit dem
Internationalen Rat für Vogelschutz in Zusammenarbeit mit Sachverständigen der
Kommission für die zuständige Generaldirektion der Kommission erarbeitet wurde.
- 69.
- Unter den Umständen des vorliegenden Falles ist das IBA 89 das einzige
Dokument, das die wissenschaftlichen Beweismittel für die Beurteilung der Frage
enthält, ob der beklagte Staat seiner Verpflichtung nachgekommen ist, diejenigen
Gebiete zu besonderen Schutzgebieten zu erklären, die zahlen- und flächenmäßig
am geeignetsten für die Erhaltung der geschützten Arten sind. Etwas anderes
würde gelten, wenn das Königreich der Niederlande wissenschaftliche Beweismittel
vorgelegt hätte, insbesondere um zu belegen, daß die genannte Verpflichtung
dadurch erfüllt werden kann, daß nach Zahl und Gesamtfläche weniger Gebiete als
nach dem IBA 89 zu besonderen Schutzgebieten erklärt werden.
- 70.
- Dieses Verzeichnis kann daher, obwohl es für die betreffenden Mitgliedstaaten
rechtlich nicht verbindlich ist, vorliegend aufgrund seines in diesem Fall
anerkannten wissenschaftlichen Wertes vom Gerichtshof als Bezugsgrundlage
verwendet werden, um zu beurteilen, inwieweit das Königreich der Niederlande
seine Verpflichtung zur Ausweisung von besonderen Schutzgebieten beachtet hat.
- 71.
- Selbst wenn die Anwendung der im IBA 89 berücksichtigten ornithologischen
Kriterien verschiedene Beteiligte veranlassen könnte, Ausweisungen von
besonderen Schutzgebieten vorzunehmen, die sich erheblich voneinander
unterscheiden, so kann diese bloße Möglichkeit, deren Eintritt im vorliegenden Fall
nicht erwiesen ist, als solche nicht in Betracht kommen, um den Beweiswert des
IBA 89 im vorliegenden Fall zu entkräften.
- 72.
- Da die Zahl und die Gesamtfläche der vom Königreich der Niederlande zu
besonderen Schutzgebieten erklärten Gebiete offensichtlich unter der Zahl und
Gesamtfläche der Gebiete liegen, die nach dem IBA 89 geeignet sind, zu
besonderen Schutzgebieten erklärt zu werden, können die Erfordernisse des
Artikels 4 Absatz 1 der Richtlinie nicht als erfüllt betrachtet werden.
- 73.
- Folglich ist, ohne daß die anderen in diesem Verfahren dargelegten Argumente zu
prüfen wären, festzustellen, daß das Königreich der Niederlande dadurch gegen
seine Verpflichtungen aus der Richtlinie verstoßen hat, daß es Gebiete zu
besonderen Schutzgebieten erklärt hat, deren Zahl und Gesamtfläche offensichtlich
unter der Zahl und Gesamtfläche der Gebiete liegen, die geeignet sind, zu
besonderen Schutzgebieten im Sinne von Artikel 4 Absatz 1 der Richtlinie erklärt
zu werden.
Kosten
- 74.
- Nach Artikel 69 § 2 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei zur
Tragung der Kosten zu verurteilen. Da das Königreich der Niederlande mit seinem
Vorbringen im wesentlichen unterlegen ist, sind ihm die Kosten aufzuerlegen.
Gemäß Artikel 69 § 4 der Verfahrensordnung tragen die Mitgliedstaaten und die
Organe, die dem Verfahren als Streithelfer beigetreten sind, ihre eigenen Kosten.
Aus diesen Gründen
hat
DER GERICHTSHOF
für Recht erkannt und entschieden:
1.Das Königreich der Niederlande hat dadurch gegen seine Verpflichtungen
aus der Richtlinie 79/409/EWG des Rates vom 2. April 1979 über die
Erhaltung der wildlebenden Vogelarten verstoßen, daß es Gebiete zu
besonderen Schutzgebieten erklärt hat, deren Zahl und Gesamtfläche
offensichtlich unter der Zahl und Gesamtfläche der Gebiete liegen, die
geeignet sind, zu besonderen Schutzgebieten im Sinne von Artikel 4 Absatz
1 dieser Richtlinie erklärt zu werden.
2.Das Königreich der Niederlande trägt die Kosten des Verfahrens.
3.Die Bundesrepublik Deutschland trägt ihre eigenen Kosten.
Rodríguez IglesiasGulmann
Ragnemalm
WatheletSchintgen Moitinho de Almeida
Kapteyn Murray
Edward
Hirsch Jann
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Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 19. Mai 1998.
Der Kanzler
Der Präsident
R. Grass
G. C. Rodríguez Iglesias