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URTEIL DES GERICHTSHOFES (Sechste Kammer)

17. Mai 2001 (1)

Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats - Richtlinie 79/409/EWG - Erhaltung der wild lebenden Vogelarten - Zulässigkeit

In der Rechtssache C-159/99

Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch P. Stancanelli als Bevollmächtigten, Zustellungsanschrift in Luxemburg,

Klägerin,

gegen

Italienische Republik, vertreten durch U. Leanza als Bevollmächtigten im Beistand von P. G. Ferri und M. Fiorilli, avvocati dello Stato, Zustellungsanschrift in Luxemburg,

Beklagte,

wegen Feststellung, dass die Italienische Republik dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus dem Gemeinschaftsrecht verstoßen hat,

- dass sie eine Regelung eingeführt hat, die unter Verstoß gegen die Artikel 5 und 7 in Verbindung mit Anhang II der Richtlinie 79/409/EWG des Rates vom 2. April 1979 über die Erhaltung der wild lebenden Vogelarten (ABl. L 103, S. 1) den Fang und die Haltung dreier Arten (Passer italiae, Passer montanus und Sturnus vulgaris) erlaubt und unter Verstoß gegen Artikel 9 dieser Richtlinie vorsieht, dass diese Regelung als allgemeine und ständige Abweichung anzuwenden ist, und damit eine unzulässige Situation der Rechtsunsicherheit hervorruft, und

- dass sie eine Regelung über die Voraussetzungen und Modalitäten für die Anwendung der Abweichung von den durch die Richtlinie 79/409 vorgeschriebenen Verboten eingeführt hat, die nicht völlig mit den Anforderungen des Artikels 9 der Richtlinie im Einklang steht, insbesondere was die in Absatz 1 Buchstaben a und b der Bestimmung geregelten Gründe für die Abweichung betrifft,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Sechste Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten C. Gulmann (Berichterstatter), der Richter V. Skouris, J.-P. Puissochet und R. Schintgen sowie der Richterin F. Macken,

Generalanwalt: P. Léger


Kanzler: D. Louterman-Hubeau, Abteilungsleiterin

aufgrund des Sitzungsberichts,

nach Anhörung der Parteien in der Sitzung vom 9. November 2000,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 15. Februar 2001,

folgendes

Urteil

1.
Die Kommission der Europäischen Gemeinschaften hat mit Klageschrift, die am 30. April 1999 bei der Kanzlei des Gerichtshofes eingegangen ist, gemäß Artikel 169 EG-Vertrag (jetzt Artikel 226 EG) Klage erhoben auf Feststellung, dass die ItalienischeRepublik dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus dem Gemeinschaftsrecht verstoßen hat,

- dass sie eine Regelung eingeführt hat, die unter Verstoß gegen die Artikel 5 und 7 in Verbindung mit Anhang II der Richtlinie 79/409/EWG des Rates vom 2. April 1979 über die Erhaltung der wild lebenden Vogelarten (ABl. L 103, S. 1, im Folgenden: Vogelschutzrichtlinie oder Richtlinie) den Fang und die Haltung dreier Arten (Passer italiae, Passer montanus und Sturnus vulgaris) erlaubt und unter Verstoß gegen Artikel 9 der Richtlinie vorsieht, dass diese Regelung als allgemeine und ständige Abweichung anzuwenden ist, und damit eine unzulässige Situation der Rechtsunsicherheit hervorruft, und

- dass sie eine Regelung über die Voraussetzungen und Modalitäten für die Anwendung der Abweichung von den durch die Vogelschutzrichtlinie vorgeschriebenen Verboten eingeführt hat, die nicht völlig mit den Anforderungen des Artikels 9 der Richtlinie im Einklang steht, insbesondere was die in Absatz 1 Buchstaben a und b der Bestimmung geregelten Gründe für die Abweichung betrifft.

Gemeinschaftsrecht

2.
Die Vogelschutzrichtlinie betrifft nach ihrem Artikel 1 die Erhaltung sämtlicher wild lebenden Vogelarten, die im europäischen Gebiet der Mitgliedstaaten, auf das der EG-Vertrag Anwendung findet, heimisch sind. Sie hat den Schutz, die Bewirtschaftung und die Regulierung dieser Arten zum Ziel und regelt deren Nutzung.

3.
Artikel 5 Buchstaben a und e der Richtlinie verbietet allgemein das Töten, Fangen und Halten aller unter die Richtlinie fallenden Vogelarten.

4.
Die Richtlinie sieht jedoch in Artikel 7 Absatz 1 vor, dass die in ihrem Anhang II aufgeführten Arten im Rahmen der einzelstaatlichen Rechtsvorschriften bejagt werden dürfen.

5.
Im Übrigen können die Mitgliedstaaten unter der Voraussetzung, dass es keine andere zufrieden stellende Lösung gibt, von dieser die Jagd beschränkenden Regelung und von den anderen in den Artikeln 5, 6 und 8 der Vogelschutzrichtlinie vorgesehenen Einschränkungen und Verboten aus den in Artikel 9 Absatz 1 Buchstaben a bis c aufgeführten Gründen abweichen, und zwar:

- erstens nach Artikel 9 Absatz 1 Buchstabe a im Interesse der Volksgesundheit, der öffentlichen Sicherheit und der Sicherheit der Luftfahrt, zur Abwendung erheblicher Schäden an der Landwirtschaft, Wäldern, Fischereigebieten und Gewässern sowie zum Schutz der Pflanzen- und Tierwelt;

- zweitens nach Artikel 9 Absatz 1 Buchstabe b zu Forschungs- und Unterrichtszwecken, zur Aufstockung der Bestände, zur Wiederansiedlung und zur Aufzucht im Zusammenhang mit diesen Maßnahmen;

- drittens nach Artikel 9 Absatz 1 Buchstabe c, um unter streng überwachten Bedingungen selektiv den Fang, die Haltung oder jede andere vernünftige Nutzung bestimmter Vogelarten in geringen Mengen zu ermöglichen.

6.
Artikel 9 Absatz 2 der Richtlinie lautet:

In den abweichenden Bestimmungen ist anzugeben,

- für welche Vogelarten die Abweichungen gelten,

- die zugelassenen Fang- oder Tötungsmittel, -einrichtungen und -methoden,

- die Art der Risiken und die zeitlichen und örtlichen Umstände, unter denen diese Abweichungen getroffen werden können,

- die Stelle, die befugt ist zu erklären, dass die erforderlichen Voraussetzungen gegeben sind, und zu beschließen, welche Mittel, Einrichtungen und Methoden in welchem Rahmen von wem angewandt werden können,

- welche Kontrollen vorzunehmen sind.

Nationales Recht

7.
Gemäß Artikel 1 Absatz 4 des italienischen Gesetzes Nr. 157/92 vom 11. Februar 1992 (GURI Nr. 46 vom 25. Februar 1992, Supplemento ordinario Nr. 41, im Folgenden: Gesetz 157/92) wird die Vogelschutzrichtlinie vollständig umgesetzt und entsprechend den Modalitäten und Fristen dieses Gesetzes durchgeführt.

8.
Nach Artikel 1 Absatz 3 des Gesetzes 157/92 erlassen die Regionen ohne Sonderstatut die Regelungen über die Bewirtschaftung und den Schutz aller wild lebenden Tierarten im Einklang mit diesem Gesetz, internationalen Übereinkommen und den Richtlinien der Gemeinschaft. Diese Vorschrift bestimmt ferner, dass die Regionen mit Sonderstatut und die autonomen Provinzen dieser Verpflichtung aufgrund ihrer ausschließlichen Zuständigkeiten innerhalb des Rahmens ihres jeweiligen Statuts unterliegen.

9.
Gemäß Artikel 2 Absatz 3 des Gesetzes 157/92 wird die Kontrolle der Populationsgröße der Vögel auf den Flughäfen dem Verkehrsminister übertragen.

10.
Artikel 4 Absatz 4 des Gesetzes 157/92 zählt eine Reihe wild lebender Vogelarten auf, deren Fang im Hinblick auf die Überlassung als Lockvogel erlaubt ist. Zu diesen Arten gehören die drei von der vorliegenden Klage betroffenen Arten.

11.
Artikel 5 Absatz 2 des Gesetzes 157/92 bestimmt:

Die Regionen erlassen ferner Bestimmungen über die Begründung und Bewirtschaftung des Bestandes von lebenden Fanglockvögeln der in Artikel 4 Absatz 4 genannten Arten, die es jedem Jäger, der eine Jagdtätigkeit gemäß Artikel 12 Absatz 5 Buchstabe b ausübt, gestatten, höchstens zehn Exemplare jeder Art bis zu einer Höchstmenge von vierzig Exemplaren zu halten. Für Jäger, die die Jagd vom vorübergehenden Anstand und mit lebenden Lockvögeln ausüben, darf der oben genannte Bestand eine Gesamthöchstmenge von zehn Exemplaren nicht überschreiten.

12.
Die ursprüngliche Fassung von Artikel 18 des Gesetzes 157/92 gestattete die Jagd verschiedener Arten, darunter die von der vorliegenden Klage betroffenen, die jedoch nicht zu den Arten gehörten, die gemäß Anhang II der Richtlinie in Italien bejagt werden dürfen.

13.
Nach Artikel 19 Absatz 2 des Gesetzes 157/92 ist es Sache der Regionen, die Kontrolle der wild lebenden Tierarten auch in den Gebieten, in denen nicht gejagt werden darf, vorzunehmen, um die folgenden Ziele zu verwirklichen: Verbesserung der Verwaltung des zoologischen Erbes, Schutz des Bodens, gesundheitspolitische Gründe, biologische Auslese, Schutz des geschichtlich-künstlerischen Erbes, Schutz der zoologischen, land- und forstwirtschaftlichen Erzeugung und der Fischbestände. Die fragliche Kontrolle ist selektiv und in der Regel unter Anwendung ökologischer Methoden vorzunehmen.

14.
Mit dem Rundschreiben Nr. 3/93 vom 29. Januar 1993 (GURI Nr. 38 vom 16. Februar 1993, im Folgenden: Rundschreiben 3/93) machte der Landwirtschaftsminister nähere Angaben zu dem Gesetz 157/92. Nach einer Zusammenfassung der Regelungen der Richtlinie verwies der Minister zum einen auf die Vogelarten, die nach Artikel 18 des Gesetzes 157/92 bejagt werden dürften, und erläuterte zum anderen den Regionen, dass die in dieser Liste genannten, aber nicht in Anhang II der Richtlinie aufgeführten Arten nur bejagt werden dürften, sofern die Voraussetzungen für die in Artikel 9 der Richtlinie vorgesehenen Abweichungen erfüllt seien. Ferner wurde in dem Rundschreiben 3/93 ausgeführt: Der Fang von Vögeln im Hinblick auf ihre Überlassung als Lockvögel gemäß den Artikeln 4 Absatz 4 und 5 Absatz 2 des Gesetzes 157/92 ist im Rahmen der aufgrund von Artikel 9 Absatz 1 Buchstabe c der Richtlinie 79/409/EWG gestatteten Abweichungen erlaubt.

15.
Um den Bestimmungen der Vogelschutzrichtlinie über die in Italien bejagbaren Arten nachzukommen, wurde Artikel 18 des Gesetzes 157/92 durch das Dekret des Präsidenten des Ministerrates vom 21. März 1997 (GURI Nr. 98 vom 29. April 1997, im Folgenden: Dekret vom 21. März 1997) dahin geändert, dass neun Vogelarten, darunter die drei von der vorliegenden Klage betroffenen Arten, von der Liste der Arten ausgeschlossen wurden, die bejagt werden dürfen.

16.
Das Istituto Nazionale per la Fauna Selvatica (Nationales Institut für wild lebende Tiere, im Folgenden: INFS) richtete an einige Regionen ein vom 13. Mai 1997datiertes Rundschreiben (im Folgenden: Rundschreiben vom 13. Mai 1997), in dem insbesondere Folgendes erläutert wird:

[Das Dekret vom 21. März 1997] hat u. a. den Star (Sturnus vulgaris), den Italiensperling (Passer italiae), den Feldsperling (Passer montanus) sowie den Haussperling (Passer domesticus), die zuvor noch für die Versorgung mit zur Jagd vom Anstand genutzten lebenden Lockvögeln gefangen wurden, aus dem Kreis der bejagbaren Arten ausgeschlossen.

Der diesen vier Arten gewährte Schutz lässt es nicht zu, sie als Lockvögel für die Jagd zu nutzen; die für die Verwaltung der Fangeinrichtungen geltenden Vorschriften sind daher zu ändern.

...

17.
Der Präsident des Ministerrates erließ ein Dekret vom 27. September 1997 (GURI Nr. 254 vom 30. Oktober 1997, im Folgenden: Dekret vom 27. September 1997), das die Modalitäten für die Anwendung der in Artikel 9 Absatz 1 Buchstabe c der Vogelschutzrichtlinie vorgesehenen Abweichung festlegt. Bezüglich der in Artikel 9 Absatz 1 Buchstaben a und b der Richtlinie vorgesehenen Abweichungen wird in der Präambel dieses Dekrets darauf hingewiesen, dass diese in den Artikeln 2 Absatz 3 und 19 des Gesetzes 157/92 geregelt sind. Aufgrund von Klagen einiger Regionen erklärte die Corte costituzionale (Italien) mit ihrer Entscheidung Nr. 169 vom 14. Mai 1999 das Dekret vom 27. September 1997 für nichtig.

Vorverfahren

18.
Nach Prüfung der italienischen Regelung übersandte die Kommission der italienischen Regierung am 30. November 1993 gemäß Artikel 169 EG-Vertrag eine schriftliche Aufforderung zur Äußerung binnen zwei Monaten.

19.
In diesem Mahnschreiben gab die Kommission in Punkt 1 und 2 die italienische Regelung über die Jagd und den Fang der drei von der vorliegenden Klage betroffenen Arten wieder. In Punkt 3 führte sie Folgendes aus:

... Auch wenn das Rundschreiben [3/93] die fraglichen Vogelarten von der Jagd und dem Fang ausgeschlossen und festgestellt hat, dass nur die Ausnahmeregelung des Artikels 9 der [Vogelschutz]richtlinie eventuell für diese Arten genutzt werden kann, stellt es aufgrund seiner Rechtsnatur auch bei Veröffentlichung in der Gazetta Ufficiale della Repubblica Italiana kein ausreichendes Mittel zur Bindung der Adressaten dar, das der im Gesetz 157/92 enthaltenen Liste der Arten, die bejagt und gefangen werden dürfen, vorgehen könnte.

Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes reicht ein Rundschreiben nämlich nicht aus, um den Erfordernissen der Rechtssicherheit in vollem Umfang zu genügen.

Im vorliegenden Fall kann eine Situation der Rechtsunsicherheit entstehen, da das Gesetz die Jagd und den Fang der oben genannten Arten gestattet, und zwar ohne Einschränkung, während das Rundschreiben eine gegenteilige Aussage enthält.

Weder die regionalen oder lokalen Verwaltungen noch die Jäger können diesen beiden Vorschriften mit Gewissheit entnehmen, welche Vögel zu welchem Zeitpunkt bejagt werden dürfen.

Hinzu kommt, dass nach Artikel 9 Absatz 2 der [Vogelschutz]richtlinie eine bestimmte Verwaltungsstelle bei den Fällen, die in den Anwendungsbereich des Artikels 9 Absatz 1 fallen, feststellen muss, ob die Voraussetzungen dieses Absatzes erfüllt sind, an welchem Ort und für welche Vögel die Jagd ausnahmsweise gestattet werden kann.

Die gemäß Artikel 9 Absatz 2 der [Vogelschutz]richtlinie zuständigen Stellen müssen außerdem prüfen, ob es eine andere zufrieden stellende Lösung gibt, mit der das konkrete Problem überwunden werden kann, ohne auf die Gestattung einer Abweichung zurückgreifen zu müssen.

...

20.
Mit Schreiben vom 21. März 1997 kündigten die italienischen Stellen der Kommission den unmittelbar bevorstehenden Erlass von Rechtsvorschriften an, um den Verpflichtungen aus der Vogelschutzrichtlinie nachzukommen. Am 29. Mai 1997 übermittelte die italienische Regierung der Kommission das Dekret vom 21. März 1997.

21.
Da die Kommission die von den italienischen Stellen erlassenen Maßnahmen für unzureichend hielt, um dem in dem Mahnschreiben enthaltenen Vorwurf abzuhelfen, übersandte sie der Italienischen Republik am 7. August 1997 eine mit Gründen versehene Stellungnahme, in der sie eine einzige Rüge erhob, die im Wesentlichen mit der ersten Rüge der vorliegenden Klage übereinstimmt.

22.
Mit Schreiben vom 1. Oktober 1997 übermittelte die italienische Regierung der Kommission das Dekret vom 27. September 1997.

23.
Nach Prüfung des Inhalts dieses Dekrets übersandte die Kommission der Italienischen Republik am 18. Juni 1998 eine ergänzende mit Gründen versehene Stellungnahme, in der sie eine weitere Rüge erhob, die mit der zweiten Rüge der vorliegenden Klage übereinstimmt.

24.
Nachdem die italienische Regierung hierauf nicht reagierte, beschloss die Kommission, die vorliegende Klage zu erheben.

Zur ersten Rüge

25.
Hiermit wirft die Kommission der Italienischen Republik vor, dass sie zum einen unter Verstoß gegen die Artikel 5 und 7 in Verbindung mit Anhang II der Vogelschutzrichtlinie eine Regelung eingeführt habe, die den Fang und die Haltung der drei von der vorliegenden Klage betroffenen Arten erlaube, und zum anderen unter Verstoß gegen Artikel 9 dieser Richtlinie vorgesehen habe, dass diese Regelung als allgemeine und ständige Abweichung anzuwenden sei.

26.
Zum ersten Teil dieser Rüge macht die Kommission geltend, aus dem Wortlaut der Artikel 4 Absatz 4 und 5 Absatz 2 des Gesetzes 157/92 ergebe sich ausdrücklich, dass die drei von der vorliegenden Klage betroffenen Arten im Hinblick auf ihre Überlassung als Lockvögel gefangen und gehalten werden dürften, was einen Verstoß gegen die Artikel 5 und 7 in Verbindung mit Anhang II der Vogelschutzrichtlinie darstelle.

27.
Die italienische Regierung führt in ihrer Klagebeantwortung aus, dass das Dekret vom 21. März 1997 durch den Ausschluss der drei von der vorliegenden Klage betroffenen Arten von der Liste der bejagbaren Arten ebenfalls den Fang und die Haltung dieser Arten ausgeschlossen habe, da ein enger Zusammenhang zwischen den Artikeln 4 Absatz 4 und 5 Absatz 2 des Gesetzes 157/92 einerseits und Artikel 18 Absatz 1 dieses Gesetzes andererseits bestehe. Denn nur die Arten, deren Jagd gestattet sei, dürften gefangen und gehalten werden.

28.
Darüber hinaus regelten die italienischen Rechtsvorschriften die Fangtätigkeit genau, unter der unmittelbaren Aufsicht der Behörden und öffentlichen Einrichtungen. Die Kontrolle der Tätigkeit dieser Einrichtungen sei dem INFS übertragen worden, das nach Erlass des Dekrets vom 21. März 1997 den betroffenen Verwaltungen durch das Rundschreiben vom 13. Mai 1997 die notwendigen Anweisungen gegeben habe, um die drei von der vorliegenden Klage betroffenen Arten von der Fangtätigkeit im Hinblick auf die Nutzung als Lockvögel auszuschließen.

29.
Zunächst ergibt sich aus den Artikeln 5 und 7 der Vogelschutzrichtlinie, dass die Jagd, der Fang und die Haltung von Exemplaren der nicht in Anhang II dieser Richtlinie aufgeführten Arten verboten sind. Die Arten Passer italiae, Passer montanus und Sturnus vulgaris sind in diesem Anhang nicht unter den Arten genannt, die in Italien gefangen und gehalten werden dürfen.

30.
Aus dem Wortlaut des Artikels 4 Absatz 4 des Gesetzes 157/92 ergibt sich, dass der Fang von Exemplaren dieser drei Arten im Hinblick auf die Überlassung als Lockvögel in Italien gestattet ist. Ferner können die Regionen nach Artikel 5 Absatz 2 des Gesetzes 157/92 die Modalitäten der Haltung der Exemplare dieser drei Arten regeln, die als Lockvögel genutzt werden sollen.

31.
Daher ist festzustellen, dass dieser nationale rechtliche Rahmen im Widerspruch zu den Artikeln 5 und 7 in Verbindung mit Anhang II der Vogelschutzrichtlinie steht.

32.
Zum Vorbringen der italienischen Regierung, dass die Verbote aus der Vogelschutzrichtlinie angesichts der Änderung des Artikels 18 des Gesetzes 157/92 durch das Dekret vom 21. März 1997 einerseits und angesichts des Rundschreibens vom 13. Mai 1997 andererseits tatsächlich eingehalten worden seien, ist auf die folgenden Aspekte der Rechtsprechung des Gerichtshofes zu den Verpflichtungen der Mitgliedstaaten bei der Umsetzung von Richtlinien der Gemeinschaft zu verweisen:

- Die Bestimmungen einer Richtlinie müssen mit unbestreitbarer Verbindlichkeit und mit der Konkretheit, Bestimmtheit und Klarheit umgesetzt werden, die notwendig sind, um den Erfordernissen der Rechtssicherheit zu genügen (vgl. insbesondere Urteil vom 19. Mai 1999 in der Rechtssache C-225/97, Kommission/Frankreich, Slg. 1999, I-3011, Randnr. 37);

- bloße Verwaltungspraktiken, die die Verwaltung ihrem Wesen nach beliebig ändern kann und die nur unzureichend bekannt gemacht sind, können nicht als eine wirksame Erfüllung der Verpflichtungen aus dem EG-Vertrag angesehen werden (vgl. insbesondere Urteil vom 11. November 1999 in der Rechtssache C-315/98, Kommission/Italien, Slg. 1999, I-8001, Randnr. 10).

33.
Die Umsetzung der Verpflichtungen aus den Artikeln 5 und 7 sowie aus Anhang II der Vogelschutzrichtlinie in italienisches Recht entspricht nicht diesen in der Rechtsprechung aufgestellten Erfordernissen.

34.
Denn selbst wenn die Änderung des Artikels 18 des Gesetzes 157/92 durch das Dekret vom 21. März 1997 zum Ausschluss des Fangs der drei von der vorliegenden Klage betroffenen Arten im Hinblick auf die Nutzung als Lockvögel geführt haben sollte, so wurden dennoch die Artikel 4 und 5 dieses Gesetzes, die den Fang und die Haltung dieser drei Arten im Hinblick auf die Nutzung als Lockvögel erlauben, nicht förmlich geändert, was im vorliegenden Fall zu einer Mehrdeutigkeit führt, die die Einhaltung des in der Vogelschutzrichtlinie vorgesehenen Verbotes dieser Maßnahmen ungewiss macht.

35.
Auch wenn das Rundschreiben vom 13. Mai 1997, wie die italienische Regierung behauptet, die in Randnummer 28 dieses Urteils beschriebenen Wirkungen haben sollte, reicht ferner ein solches Rundschreiben, das die Verwaltung seinem Wesen nach beliebig ändern kann, nicht aus, um die fraglichen Bestimmungen der Vogelschutzrichtlinie umzusetzen.

36.
Daher ist festzustellen, dass die Artikel 5 und 7 sowie Anhang II der Vogelschutzrichtlinie nicht mit der nach dem Gemeinschaftsrecht erforderlichen Konkretheit, Bestimmtheit und Klarheit in italienisches Recht umgesetzt worden sind.

37.
Mit dem zweiten Teil der ersten Rüge wirft die Kommission der Italienischen Republik vor, dass sie vorgesehen habe, dass die im ersten Teil dieser Rüge genannte nationale Regelung als allgemeine und ständige Abweichung anzuwenden sei, was einen Verstoßgegen Artikel 9 der Vogelschutzrichtlinie darstelle; dies rufe eine Situation der Rechtsunsicherheit hervor.

38.
Die Kommission erläutert diesen Teil ihrer Rüge unter Hinweis darauf, dass die italienischen Stellen ihr nach der ersten mit Gründen versehenen Stellungnahme das Dekret vom 27. September 1997 übermittelt hätten. Dieses Dekret könne aber den Widerspruch zwischen dem Gesetz 157/92 und der Vogelschutzrichtlinie nur auflösen, wenn sein Artikel 3 bezüglich der Abweichungen dahin ausgelegt werde, dass er auf alle Fälle anzuwenden sei, in denen Exemplare von geschützten Arten gefangen würden, um sie als Lockvögel zu überlassen, also auf alle Fälle des Artikels 4 Absatz 4 des Gesetzes 157/92.

39.
Hierzu sind folgende Ausführungen zu machen.

40.
Zunächst kann zwar, wie die Kommission ausgeführt hat, Artikel 9 der Richtlinie keine Abweichung von ihren Artikeln 5 und 7 sowie ihrem Anhang II rechtfertigen, die in einer allgemeinen und ständigen Erlaubnis des Fangs und der Haltung der drei von der vorliegenden Klage betroffenen Arten besteht, doch bestreitet die italienische Regierung, im Verlauf dieses Vertragsverletzungsverfahrens vorgetragen zu haben, dass Artikel 3 des Dekrets vom 27. September 1997 als allgemeine und ständige Abweichung anzuwenden gewesen sei.

41.
Tatsächlich ist unstreitig, dass die italienische Regierung in ihren Erklärungen vor dem Gerichtshof ihre Verteidigung auf das Vorbringen gestützt hat, dass der Fang und die Haltung der drei von der vorliegenden Klage betroffenen Arten in Italien nicht erlaubt seien, und nicht auf eine Anwendung von Artikel 9 der Vogelschutzrichtlinie.

42.
Ferner hat die Corte costituzionale mit ihrer Entscheidung vom 14. Mai 1999 das Dekret vom 27. September 1997 für nichtig erklärt, indem sie insbesondere entschieden hat, dass die für die Jagd zuständigen Stellen, darunter die Regionen, die in Artikel 9 der Vogelschutzrichtlinie vorgesehenen Abweichungen nicht anwenden könnten, wenn es keine vorherige allgemeine Regelung dieser Frage gebe, deren Erlass in die Zuständigkeit des Staates falle.

43.
Schließlich stellt die Kommission in ihrer Erwiderung selbst fest, dass jede Diskussion über diesen Teil der ersten Rüge nur noch von theoretischem Interesse sei, da das Dekret vom 27. September 1997 von der Corte costituzionale für nichtig erklärt worden sei, und dass nach dem gegenwärtigen Stand der Dinge keine gesetzliche Vorschrift die Anwendung der Artikel 4 Absatz 4 und 5 Absatz 2 des Gesetzes 157/92 beschränke.

44.
Daher braucht über diesen Teil der ersten Rüge nicht entschieden zu werden.

Zur zweiten Rüge

45.
Hiermit wirft die Kommission der Italienischen Republik vor, dass sie in Bezug auf die Voraussetzungen und Modalitäten der Anwendung der Abweichungen von den durch die Vogelschutzrichtlinie vorgeschriebenen Verboten eine Regelung eingeführt habe, die nicht völlig mit den Anforderungen des Artikels 9 Absatz 1 Buchstaben a und b der Richtlinie im Einklang stehe.

46.
Die Kommission macht geltend, dass das Dekret vom 27. September 1997 nur im Hinblick auf die in Artikel 9 Absatz 1 Buchstabe c der Vogelschutzrichtlinie vorgesehene Abweichungsmöglichkeit eine ausreichende Maßnahme darstelle, um die Umsetzung der wesentlichen Aspekte des Artikels 9 der Richtlinie sicherzustellen. Was hingegen die in Artikel 9 Absatz 1 Buchstaben a und b der Vogelschutzrichtlinie vorgesehenen Abweichungsmöglichkeiten angehe, begnüge sich dieses Dekret mit einer bloßen Verweisung auf einen anderen Gesetzestext, indem es feststelle, dass die fraglichen Abweichungen in den Artikeln 2 Absatz 3 und 19 des Gesetzes 157/92 geregelt seien. Weder diese beiden letztgenannten Vorschriften noch eine andere Vorschrift des italienischen Rechts legten die Voraussetzungen und Modalitäten für die Gestattung der Abweichungen in den von Artikel 9 Absatz 1 Buchstaben a und b der Vogelschutzrichtlinie erfassten Fällen fest. Im italienischen Recht gebe es daher keine vollständige und gemeinschaftskonforme Regelung, die in diesen Fällen eine konkrete Anwendung der in der Richtlinie vorgesehenen Abweichungen ermöglichten.

47.
Die italienische Regierung trägt in ihrer Klagebeantwortung vor, dass diese Rüge für unzulässig zu erklären sei, da sie nicht in den durch das Mahnschreiben vom 30. November 1993 festgelegten Rahmen der Streitigkeit falle.

48.
Die Kommission erwidert, dass die für die vorprozessuale Phase des Verfahrens geltenden Grundsätze im vorliegenden Fall ordnungsgemäß angewandt worden seien. Sie habe diese zweite Rüge bereits in knapper und allgemeiner Form in dem Mahnschreiben dargestellt, indem sie ausdrücklich auf einige der Voraussetzungen Bezug genommen habe, denen die Anwendung der in Artikel 9 der Vogelschutzrichtlinie vorgesehenen Abweichungen unterworfen sei.

49.
Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofes solle die vorprozessuale Phase des Verfahrens dem betroffenen Mitgliedstaat Gelegenheit geben, sowohl den ihm obliegenden gemeinschaftsrechtlichen Verpflichtungen nachzukommen als auch seine Verteidigungsmittel gegenüber den Rügen der Kommission wirkungsvoll geltend zu machen (vgl. Urteil vom 20. März 1997 in der Rechtssache C-96/95, Kommission/Deutschland, Slg. 1997, I-1653, Randnr. 22).

50.
Weiterhin unter Berufung auf die Rechtsprechung des Gerichtshofes trägt die Kommission in diesem Zusammenhang vor, dass das Mahnschreiben zwar den Gegenstand der Streitigkeit umschreiben und dem Mitgliedstaat die zur Vorbereitung seiner Verteidigung notwendigen Angaben an die Hand geben solle, dass an die Vollständigkeit dieses Schreibens aber nicht dieselben Anforderungen wie an die mit Gründen versehene Stellungnahme gestellt werden könnten. Denn dieses Schreibenkönne in einer lediglich ersten knappen Zusammenfassung der in allgemeiner Form dargestellten Vorwürfe bestehen, wobei die nachfolgende mit Gründen versehene Stellungnahme durch eine zusammenhängende und detaillierte Darlegung der Gründe, aus denen die Kommission zu der Überzeugung gelangt sei, dass der betreffende Mitgliedstaat gegen seine Verpflichtungen aus dem Gemeinschaftsrecht verstoßen habe, diese Vorwürfe präzisieren müsse (vgl. Urteil vom 16. September 1997 in der Rechtssache C-279/94, Kommission/Italien, Slg. 1997, I-4743, Randnrn. 14 und 15).

51.
Zunächst ist festzustellen, dass dem Mahnschreiben vom 30. November 1993 zu entnehmen ist, dass die Kommission der Italienischen Republik darin vorgeworfen hat, sie habe unter Verstoß gegen die Richtlinie die Jagd, den Fang und die Haltung bestimmter wild lebenden Vogelarten, darunter die drei von der vorliegenden Klage betroffenen Arten, gestattet. Die Erwähnung des Artikels 9 der Vogelschutzrichtlinie in diesem Schreiben erklärte sich durch die Existenz des Rundschreibens 3/93, zu dem die Kommission festgestellt hat, dass nur die in Artikel 9 der Richtlinie vorgesehene Ausnahmeregelung eventuell genutzt werden könne, um die Jagd und den Fang von Arten zu gestatten, für die das Gesetz 157/92 diese Praktiken zulasse, die aber nicht in Anhang II der Richtlinie aufgeführt seien.

52.
Ferner hat die Kommission in ihrer ersten mit Gründen versehenen Stellungnahme vom 7. August 1997 eine einzige Rüge gegenüber der Italienischen Republik erhoben, nämlich im Wesentlichen die gleiche Rüge wie diejenige, die sie in ihrem Mahnschreiben dargelegt hatte.

53.
Schließlich hat die Kommission in ihrer ergänzenden mit Gründen versehenen Stellungnahme vom 18. Juni 1998 zwei verschiedene Rügen erhoben. Sie hat zum einen die Rüge ihrer ersten mit Gründen versehenen Stellungnahme wiederholt und zum anderen der Italienischen Republik vorgeworfen, dass sie in Bezug auf die Voraussetzungen und Modalitäten der Anwendung der Abweichungen von den durch die Vogelschutzrichtlinie vorgeschriebenen Verboten eine Regelung eingeführt habe, die nicht mit den Anforderungen des Artikels 9 Absatz 1 Buchstaben a und b der Richtlinie im Einklang stehe. Hierfür hat die Kommission insbesondere das Dekret vom 27. September 1997 mit Bezug auf die Artikel 2 Absatz 3 und 19 des Gesetzes 157/92 überprüft.

54.
Daher ist festzustellen, dass die Kommission in ihrer ergänzenden mit Gründen versehenen Stellungnahme gegenüber der Italienischen Republik eine neue Rüge erhoben hat, die sie in ihrem Mahnschreiben nicht erhoben hatte. Diese Änderung der Vorwürfe geht trotz des allgemeinen Wortlauts, der bei einem Mahnschreiben zulässig ist, über eine bloße Präzisierung der ersten knappen Zusammenfassung der Vorwürfe hinaus, so dass die zweite Rüge der Kommission im Rahmen des vorliegenden Verfahrens nicht geprüft werden kann.

55.
Daher ist die zweite Rüge betreffend die Umsetzung von Artikel 9 Absatz 1 Buchstaben a und b der Vogelschutzrichtlinie als unzulässig zurückzuweisen.

Kosten

56.
Nach Artikel 69 § 2 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Nach Artikel 69 § 3 Absatz 1 der Verfahrensordnung kann der Gerichtshof jedoch beschließen, dass jede Partei ihre eigenen Kosten trägt, wenn jede Partei teils obsiegt, teils unterliegt. Da die Kommission und die Italienische Republik mit ihrem Vorbringen teils obsiegt haben und teils unterlegen sind, haben sie jeweils ihre eigenen Kosten zu tragen.

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF (Sechste Kammer)

für Recht erkannt und entschieden:

1. Die Italienische Republik hat dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus der Richtlinie 79/409/EWG des Rates vom 2. April 1979 über die Erhaltung der wild lebenden Vogelarten verstoßen, dass sie eine Regelung eingeführt hat, die unter Verstoß gegen die Artikel 5 und 7 in Verbindung mit Anhang II dieser Richtlinie den Fang und die Haltung der Arten Passer italiae, Passer montanus und Sturnus vulgaris erlaubt.

2. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

3. Jede Partei trägt ihre eigenen Kosten.

Gulmann
Skouris
Puissochet

Schintgen

Macken

Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 17. Mai 2001.

Der Kanzler

Der Präsident der Sechsten Kammer

R. Grass

C. Gulmann


1: Verfahrenssprache: Italienisch.