URTEIL DES GERICHTSHOFES (Dritte Kammer)
14. Juni 2001 (1)
Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats - Nichtumsetzung der
Richtlinien 75/442/EWG, 76/464/EWG, 80/68/EWG, 84/360/EWG und 85/337/EWG -
Umweltbelastungen - Abfälle - Gefährliche Stoffe - Wasserverschmutzung -
Luftverschmutzung
In der Rechtssache C-230/00
Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch H. van
Lier als Bevollmächtigten im Beistand von M. H. van der Woude und T. E. M.
Chellingsworth, avocats, Zustellungsanschrift in Luxemburg,
gegen
Königreich Belgien, vertreten durch A. Snoecx als Bevollmächtigte,
wegen Feststellung, dass das
Königreich Belgien gegen seine Verpflichtungen aus
- Artikel 9 der Richtlinie 75/442/EWG des Rates vom 15. Juli 1975 über
Abfälle (ABl. L 194, S. 39) in der Fassung der Richtlinie 91/156/EWG des Rates
vom 18. März 1991 (ABl. L 78, S. 32),
- den Artikeln 3, 4, 5 und 7 der Richtlinie 76/464/EWG des Rates vom 4. Mai
1976 betreffend die Verschmutzung infolge der Ableitung bestimmter
gefährlicher Stoffe in die Gewässer der Gemeinschaft (ABl. L 129, S. 23),
- den Artikeln 3, 4, 5, 7 und 10 der Richtlinie 80/68/EWG des Rates vom 17.
Dezember 1979 über den Schutz des Grundwassers gegen Verschmutzung durch
bestimmte gefährliche Stoffe (ABl. 1980, L 20, S. 43),
- den Artikeln 3, 4, 9 und 10 der Richtlinie 84/360/EWG des Rates vom 28.
Juni 1984 zur Bekämpfung der Luftverunreinigung durch Industrieanlagen (ABl. L
188, S. 20) und
- den Artikeln 2 und 8 der Richtlinie 85/337/EWG des Rates vom 27. Juni
1985 über die Umweltverträglichkeitsprüfung bei bestimmten öffentlichen und
privaten Projekten (ABl. L 175, S. 40)
sowie aus Artikel 189 EG-Vertrag (jetzt Artikel 249 EG) verstoßen hat,
indem es nicht die erforderlichen Rechts- und Verwaltungsvorschriften erlassen
hat, um diese Richtlinien vollständig umzusetzen,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten C. Gulmann sowie der Richter J.-P.
Puissochet und J. N. Cunha Rodrigues (Berichterstatter),
Generalanwalt: J. Mischo
Kanzler: R. Grass
aufgrund des Berichts des Berichterstatters,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 8.
März 2001,
folgendes
Urteil
- 1.
- Die Kommission der Europäischen Gemeinschaften hat mit Klageschrift, die
am 9. Juni 2000 bei der Kanzlei des Gerichtshofes eingegangen ist, gemäß
Artikel 226 EG Klage erhoben auf Feststellung, dass das Königreich Belgien
gegen seine Verpflichtungen aus
- Artikel 9 der Richtlinie 75/442/EWG des Rates vom 15. Juli 1975 über
Abfälle (ABl. L 194, S. 39) in der Fassung der Richtlinie 91/156/EWG des Rates
vom 18. März 1991 (ABl. L 78, S. 32),
- den Artikeln 3, 4, 5 und 7 der Richtlinie 76/464/EWG des Rates vom 4. Mai
1976 betreffend die Verschmutzung infolge der Ableitung bestimmter
gefährlicher Stoffe in die Gewässer der Gemeinschaft (ABl. L 129, S. 23),
- den Artikeln 3, 4, 5, 7 und 10 der Richtlinie 80/68/EWG des Rates vom 17.
Dezember 1979 über den Schutz des Grundwassers gegen Verschmutzung durch
bestimmte gefährliche Stoffe (ABl. 1980, L 20, S. 43),
- den Artikeln 3, 4, 9 und 10 der Richtlinie 84/360/EWG des Rates vom 28.
Juni 1984 zur Bekämpfung der Luftverunreinigung durch Industrieanlagen (ABl. L
188, S. 20) und
- den Artikeln 2 und 8 der Richtlinie 85/337/EWG des Rates vom 27. Juni
1985 über die Umweltverträglichkeitsprüfung bei bestimmten öffentlichen und
privaten Projekten (ABl. L 175, S. 40)
sowie aus Artikel 189 EG-Vertrag (jetzt Artikel 249 EG) verstoßen hat,
indem es nicht die erforderlichen Rechts- und Verwaltungsvorschriften erlassen
hat, um diese Richtlinien vollständig umzusetzen.
Rechtlicher Rahmen
- 2.
- Die Richtlinien 75/442, 76/464, 80/68 und 84/360 verpflichten die
Mitgliedstaaten, geeignete Maßnahmen zu treffen, um sicherzustellen, dass die
darin geregelten Tätigkeiten oder Anlagen dem Erfordernis der vorherigen
Genehmigung unterworfen werden.
- 3.
- Die Richtlinie 85/337 bestimmt in Artikel 2, dass die Mitgliedstaaten die
erforderlichen Maßnahmen treffen, damit Projekte, bei denen mit erheblichen
Auswirkungen auf die Umwelt zu rechnen ist, vor der Erteilung der Genehmigung
einer Prüfung im Hinblick auf ihre Auswirkungen unterzogen werden.
- 4.
- Die zur Umsetzung der Richtlinien 75/442, 76/464, 80/68, 84/360 und 85/337
erlassenen Bestimmungen des belgischen Rechts enthalten die Verpflichtung zur
Einholung einer Genehmigung. Allerdings sehen einige dieser Bestimmungen,
insbesondere in den Regelungen der Regionen Flandern und Wallonien, ein
Verfahren der stillschweigenden Erteilung und Ablehnung der Genehmigungen vor.
- 5.
- Trifft nämlich die zuständige Behörde in erster Instanz auf einen
Genehmigungsantrag keine Entscheidung, so gilt die Genehmigung als abgelehnt.
In zweiter Instanz dagegen gilt die Genehmigung als erteilt, wenn die
zuständige Behörde nicht innerhalb der vorgesehenen Frist reagiert. Dies ist
im Wesentlichen das System, das in den Artikeln 34 bis 42 und 49 bis 55 der
Verordnung der flämischen Regierung vom 6. Februar 1991 über das Verfahren für
die ökologische Genehmigung (Moniteur belge vom 26. Juni 1991, S.
14269) und in Artikel 11 des Dekrets des Wallonischen Regionalrats vom 27.
Juni 1996 über Abfälle (Moniteur belge vom 2. August 1996, S. 20685)
vorgesehen ist.
Vorverfahren
- 6.
- Da die Kommission der Auffassung war, dass das Königreich Belgien die
Richtlinien 75/442, 76/464, 80/68, 84/360 und 85/337 nicht ordnungsgemäß
umgesetzt habe, gab sie diesem Mitgliedstaat mit Schreiben vom 6. Juli 1998
nach dem im EG-Vertrag für Vertragsverletzungen vorgesehenen Verfahren
Gelegenheit zur Äußerung.
- 7.
- Nachdem dieses Schreiben unbeantwortet geblieben war, richtete die
Kommission am 18. Dezember 1998 eine mit Gründen versehene Stellungnahme an
das Königreich Belgien.
- 8.
- Am 6. Januar 1999 erhielt die Kommission ein Schreiben der belgischen
Behörden, dem ein Schreiben der flämischen Regierung vom 8. Dezember 1998
beigefügt war. Dieses enthielt die mit dem Schreiben der Kommission vom 6.
Juli 1998 erbetene Äußerung der flämischen Behörden, die insbesondere auf den
beschränkten Anwendungsbereich der stillschweigenden Genehmigung und auf die
geringe Anzahl der erteilten stillschweigenden Genehmigungen verwiesen. Alle
zuständigen Behörden und beratenden Einrichtungen seien sich der Folgen des
Nichterlasses einer Entscheidung bewusst und achteten daher stets darauf, dass
jeder Genehmigungsantrag eingehend geprüft werde.
- 9.
- In der Antwort der flämischen Regierung auf die mit Gründen versehene
Stellungnahme, die am 15. März 1999 bei der Kommission einging, wurden im
Wesentlichen die Argumente aus dem Schreiben vom 8. Dezember 1998 wiederholt.
Die Regionalregierung fügte jedoch hinzu, dass eine stillschweigende
Genehmigung nicht auf eine passive Prüfung oder eine Nachlässigkeit der
zuständigen Behörde hindeute, denn jeder Genehmigungsantrag werde eingehend
untersucht.
- 10.
- Da die Kommission der Auffassung war, dass das Königreich Belgien nicht
alle erforderlichen Maßnahmen getroffen habe, um der mit Gründen versehenen
Stellungnahme nachzukommen, hat sie beschlossen, die vorliegende Klage zu
erheben.
Zur Begründetheit
- 11.
- Die Kommission macht geltend, der Gerichtshof habe bereits entschieden,
dass ein System stillschweigender Genehmigungen mit den Erfordernissen der
Richtlinie 80/68 unvereinbar sei (Urteil vom 28. Februar 1991 in der
Rechtssache C-360/87, Kommission/Italien, Slg. 1991, I-791, Randnr. 31). Diese
Rechtsprechung gelte auch für die Genehmigungen nach den Richtlinien 75/442,
76/464, 84/360 und 85/337.
- 12.
- Das in Randnummer 5 des vorliegenden Urteils beschriebene Verfahren der
stillschweigenden Genehmigung ist daher nach Ansicht der Kommission mit den in
Rede stehenden Richtlinien unvereinbar.
- 13.
- Das Königreich Belgien weist, ohne die ihm vorgeworfene Vertragsverletzung
zu bestreiten, in seiner Klagebeantwortung lediglich darauf hin, dass die
flämische Regierung zurzeit einen Entwurf für ein Dekret zu dieser Frage
ausarbeite und die wallonische Regierung dazu bereits zwei Vorentwürfe für
Verordnungen sowie eine Reihe von Ausführungsbestimmungen zum Dekret vom 11.
März 1999 über die Umweltgenehmigung (Moniteur belge vom 8. Juni 1999,
S. 21101) erlassen habe.
- 14.
- Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass die Richtlinie 80/68 nach der
Rechtsprechung des Gerichtshofes vorschreibt, dass nach jeder Prüfung aufgrund
der Ergebnisse stets ein ausdrücklicher Rechtsakt - ein Verbot oder eine
Genehmigung - ergehen muss (Urteil vom 28. Februar 1991 in der Rechtssache
C-131/88, Kommission/Deutschland, Slg. 1991, I-825, Randnr. 38).
- 15.
- Außerdem besteht das wesentliche Ziel der Richtlinie 85/337, wie in
Randnummer 52 des Urteils vom 19. September 2000 in der Rechtssache C-287/98
(Linster, Slg. 2000, I-6917) festgestellt worden ist, darin, dass Projekte,
bei denen insbesondere aufgrund ihrer Art, ihrer Größe oder ihres Standorts
mit erheblichen Auswirkungen auf die Umwelt zu rechnen ist, vor Erteilung der
Genehmigung einer Prüfung in Bezug auf ihre Auswirkungen unterzogen werden.
- 16.
- Aus dieser Rechtsprechung ergibt sich, dass eine stillschweigende
Genehmigung nicht mit den Erfordernissen der in der vorliegenden Klage
genannten Richtlinien vereinbar sein kann, denn diese verlangen im Fall der
Richtlinien 75/442, 76/464, 80/68 und 84/360 Verfahren der vorherigen
Genehmigung oder im Fall der Richtlinie 85/337 die Durchführung einer Prüfung
vor der Erteilung der Genehmigung. Die nationalen Behörden sind daher nach
jeder dieser Richtlinien verpflichtet, alle Genehmigungsanträge im Einzelfall
zu prüfen.
- 17.
- Was die ergänzenden Umsetzungsmaßnahmen angeht, die in den Regionen
Flandern und Wallonien erlassen werden sollen, so ist daran zu erinnern, dass
die Richtlinien gemäß Artikel 189 Absatz 3 EG-Vertrag für jeden Mitgliedstaat,
an den sie gerichtet sind, hinsichtlich des zu erreichenden Zieles verbindlich
sind. Nach ständiger Rechtsprechung schließt diese Verpflichtung die
Einhaltung der in den Richtlinien gesetzten Fristen ein (vgl. u. a. Urteile
vom 22. September 1976 in der Rechtssache 10/76, Kommission/Italien, Slg.
1976, 1359, Randnrn. 11 und 12, sowie vom 8. März 2001 in der Rechtssache
C-176/00, Kommission/Griechenland, Slg. 2001, I-0000, Randnr. 7).
- 18.
- Somit ist festzustellen, dass das Königreich Belgien gegen seine
Verpflichtungen aus Artikel 9 der Richtlinie 75/442, den Artikeln 3, 4, 5 und
7 der Richtlinie 76/464, den Artikeln 3, 4, 5, 7 und 10 der Richtlinie 80/68,
den Artikeln 3, 4, 9 und 10 der Richtlinie 84/360 und den Artikeln 2 und 8 der
Richtlinie 85/337 verstoßen hat, indem es nicht die erforderlichen Rechts- und
Verwaltungsvorschriften erlassen hat, um diese Richtlinien vollständig
umzusetzen.
Kosten
- 19.
- Nach Artikel 69 § 2 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei auf
Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da die Kommission die
Verurteilung des Königreichs Belgien beantragt hat und dieses mit seinem
Vorbringen unterlegen ist, sind ihm die Kosten aufzuerlegen.
Aus diesen Gründen
hat
DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)
für Recht erkannt und entschieden:
1. Das Königreich Belgien hat gegen seine Verpflichtungen aus
- Artikel 9 der Richtlinie 75/442/EWG des Rates vom 15. Juli 1975 über
Abfälle in der Fassung der Richtlinie 91/156/EWG des Rates vom 18. März 1991,
- den Artikeln 3, 4, 5 und 7 der Richtlinie 76/464/EWG des Rates vom 4. Mai
1976 betreffend die Verschmutzung infolge der Ableitung bestimmter
gefährlicher Stoffe in die Gewässer der Gemeinschaft,
- den Artikeln 3, 4, 5, 7 und 10 der Richtlinie 80/68/EWG des Rates vom 17.
Dezember 1979 über den Schutz des Grundwassers gegen Verschmutzung durch
bestimmte gefährliche Stoffe,
- den Artikeln 3, 4, 9 und 10 der Richtlinie 84/360/EWG des Rates vom 28.
Juni 1984 zur Bekämpfung der Luftverunreinigung durch Industrieanlagen und
- den Artikeln 2 und 8 der Richtlinie 85/337/EWG des Rates vom 27. Juni
1985 über die Umweltverträglichkeitsprüfung bei bestimmten öffentlichen und
privaten Projekten
verstoßen, indem es nicht die erforderlichen Rechts- und
Verwaltungsvorschriften erlassen hat, um diese Richtlinien vollständig
umzusetzen.
2. Das Königreich Belgien trägt die Kosten des Verfahrens.
Gulmann
Puissochet
Cunha Rodrigues
|
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 14. Juni 2001.
Der Kanzler
Der Präsident der Dritten Kammer
R. Grass
C. Gulmann