URTEIL DES GERICHTSHOFES (Sechste Kammer)
11. September 2001 (1)
Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats - Richtlinie 92/43/EWG
- Erhaltung der natürlichen Lebensräume - Erhaltung der wild lebenden Tiere
und Pflanzen - Artikel 4 Absatz 1 - Liste von Gebieten - Informationen über
die Gebiete
In der Rechtssache C-220/99
Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch P.
Stancanelli und O. Couvert-Castéra als Bevollmächtigte, Zustellungsanschrift
in Luxemburg,
gegen
Französische Republik, vertreten durch K. Rispal-Bellanger und D.
Colas als Bevollmächtigte, Zustellungsanschrift in Luxemburg,
wegen Feststellung, dass die Französische Republik dadurch gegen
ihre Verpflichtungen aus der Richtlinie 92/43/EWG des Rates vom 21. Mai 1992
zur Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wild lebenden Tiere und
Pflanzen (ABl. L 206, S. 7) verstoßen hat, dass sie der Kommission nicht die
in Artikel 4 Absatz 1 Unterabsatz 1 dieser Richtlinie genannte vollständige
Liste von Gebieten zusammen mit den in Artikel 4 Absatz 1 Unterabsatz 2 der
Richtlinie vorgesehenen Informationen über diese Gebiete übermittelt hat,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Sechste Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten C. Gulmann (Berichterstatter) sowie
der Richter V. Skouris und R. Schintgen, der Richterin F. Macken und des
Richters J. N. Cunha Rodrigues,
Generalanwalt: P. Léger
Kanzler: H. von Holstein, Hilfskanzler
aufgrund des Sitzungsberichts,
nach Anhörung der Parteien in der Sitzung vom 18. Januar 2001,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 3.
Mai 2001,
folgendes
Urteil
- 1.
- Die Kommission der Europäischen Gemeinschaften hat mit Klageschrift, die
am 9. Juni 1999 bei der Kanzlei des Gerichtshofes eingegangen ist, gemäß
Artikel 226 EG Klage erhoben auf Feststellung, dass die Französische Republik
dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus der Richtlinie 92/43/EWG des Rates vom
21. Mai 1992 zur Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wild lebenden
Tiere und Pflanzen (ABl. L 206, S. 7, im Folgenden: Richtlinie) verstoßen hat,
dass sie der Kommission nicht die in Artikel 4 Absatz 1 Unterabsatz 1 dieser
Richtlinie genannte vollständige Liste von Gebieten zusammen mit den in
Artikel 4 Absatz 1 Unterabsatz 2 der Richtlinie vorgesehenen Informationen
über diese Gebiete übermittelt hat.
Das Gemeinschaftsrecht
- 2.
- Nach Artikel 2 der Richtlinie hat diese zum Ziel, zur Sicherung der
Artenvielfalt durch die Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wild
lebenden Tiere und Pflanzen im europäischen Gebiet der Mitgliedstaaten, für
das der EG-Vertrag Geltung hat, beizutragen.
- 3.
- Artikel 3 Absätze 1 und 2 der Richtlinie bestimmt:
(1) Es wird ein kohärentes europäisches ökologisches Netz besonderer
Schutzgebiete mit der Bezeichnung .Natura 2000' errichtet. Dieses Netz besteht
aus Gebieten, die die natürlichen Lebensraumtypen des Anhangs I sowie die
Habitate der Arten des Anhang[s] II umfassen, und muss den Fortbestand oder
gegebenenfalls die Wiederherstellung eines günstigen Erhaltungszustandes
dieser natürlichen Lebensraumtypen und Habitate der Arten in ihrem natürlichen
Verbreitungsgebiet gewährleisten.
Das Netz .Natura 2000' umfasst auch die von den Mitgliedstaaten aufgrund
der Richtlinie 79/409/EWG ausgewiesenen besonderen Schutzgebiete.
(2) Jeder Staat trägt im Verhältnis der in seinem Hoheitsgebiet vorhandenen
in Absatz 1 genannten natürlichen Lebensraumtypen und Habitate der Arten zur
Errichtung von Natura 2000 bei. Zu diese[m] Zweck weist er nach den
Bestimmungen des Artikels 4 Gebiete als besondere Schutzgebiete aus, wobei er
den in Absatz 1 genannten Zielen Rechnung trägt.
- 4.
- Nach Artikel 1 Buchstabe j der Richtlinie ist Gebiet ein geographisch
definierter Bereich mit klar abgegrenzter Fläche. Nach Artikel 1 Buchstabe k
der Richtlinie ist Gebiet von gemeinschaftlicher Bedeutung ein Gebiet, das in
der oder den biogeographischen Region(en), zu welchen es gehört, in
signifikantem Maße dazu beiträgt, einen natürlichen Lebensraumtyp des Anhangs
I oder eine Art des Anhangs II in einem günstigen Erhaltungszustand zu
bewahren oder einen solchen wiederherzustellen, und auch in signifikantem Maße
zur Kohärenz des Netzes Natura 2000 und/oder in signifikantem Maße zur
biologischen Vielfalt in der biogeographischen Region beitragen kann. Bei
Tierarten, die große Lebensräume beanspruchen, entsprechen die Gebiete von
gemeinschaftlichem Interesse den Orten im natürlichen Verbreitungsgebiet
dieser Arten, die die für ihr Leben und ihre Fortpflanzung ausschlaggebenden
physischen und biologischen Elemente aufweisen.
- 5.
- Das in Artikel 4 der Richtlinie festgelegte Verfahren für die Ausweisung
der besonderen Schutzgebiete besteht aus vier Phasen. Als Erstes legt jeder
Mitgliedstaat eine Liste von Gebieten vor, in der die in diesen Gebieten
vorkommenden natürlichen Lebensraumtypen des Anhangs I und einheimischen Arten
des Anhangs II der Richtlinie aufgeführt sind (Artikel 4 Absatz 1). Als
Zweites erstellt die Kommission jeweils im Einvernehmen mit den
Mitgliedstaaten aus den Listen der Mitgliedstaaten den Entwurf einer Liste der
Gebiete von gemeinschaftlicher Bedeutung (Artikel 4 Absatz 2 Unterabsätze 1
und 2). Als Drittes wird die Liste der Gebiete, die als Gebietevon
gemeinschaftlicher Bedeutung ausgewählt wurden, von der Kommission nach dem
Verfahren des Artikels 21 der Richtlinie festgelegt (Artikel 4 Absätze 2
Unterabsatz 3 und 3). Als Viertes weisen die Mitgliedstaaten die Gebiete von
gemeinschaftlicher Bedeutung als besondere Schutzgebiete aus (Artikel 4 Absatz
4).
- 6.
- Speziell in Bezug auf die erste Phase bestimmt Artikel 4 Absatz 1
Unterabsatz 1 der Richtlinie, dass die Mitgliedstaaten die dort genannte Liste
von Gebieten anhand der in Anhang III (Phase 1) der Richtlinie festgelegten
Kriterien und einschlägiger wissenschaftlicher Informationen vorlegen.
- 7.
- Anhang III (Phase 1) Abschnitte A und B der Richtlinie nennt folgende
Kriterien:
A. Kriterien zur Beurteilung der Bedeutung des Gebietes für einen
natürlichen Lebensraumtyp des Anhangs I
a) Repräsentativitätsgrad des in diesem Gebiet vorkommenden natürlichen
Lebensraumtyps.
b) Vom natürlichen Lebensraumtyp eingenommene Fläche im Vergleich zur
Gesamtfläche des betreffenden Lebensraumtyps im gesamten Hoheitsgebiet des
Staates.
c) Erhaltungsgrad der Struktur und der Funktionen des betreffenden
natürlichen Lebensraumtyps und Wiederherstellungsmöglichkeit.
d) Gesamtbeurteilung des Wertes des Gebietes für die Erhaltung des
betreffenden natürlichen Lebensraumtyps.
B. Kriterien zur Beurteilung der Bedeutung des Gebiets für eine gegebene
Art des Anhangs II
a) Populationsgröße und -dichte der betreffenden Art in diesem Gebiet im
Vergleich zu den Populationen im ganzen Land.
b) Erhaltungsgrad der für die betreffende Art wichtigen Habitatselemente
und Wiederherstellungsmöglichkeit.
c) Isolierungsgrad der in diesem Gebiet vorkommenden Population im
Vergleich zum natürlichen Verbreitungsgebiet der jeweiligen Art.
d) Gesamtbeurteilung des Wertes des Gebietes für die Erhaltung der
betreffenden Art.
- 8.
- Nach Anhang III (Phase 1) Abschnitt C der Richtlinie stufen die
Mitgliedstaaten anhand der in Anhang III (Phase 1) Abschnitte A und B
genannten Kriterien die Gebiete, die sie mit der nationalen Liste vorschlagen,
als Gebiete ein, die aufgrundihres relativen Wertes für die Erhaltung
jedes/jeder der in Anhang I bzw. II der Richtlinie genannten natürlichen
Lebensraumtypen bzw. Arten als Gebiete von gemeinschaftlicher Bedeutung
bestimmt werden könnten.
- 9.
- Nach Artikel 4 Absatz 1 Unterabsatz 2 der Richtlinie ist die Liste der
vorgeschlagenen Gebiete der Kommission binnen drei Jahren nach der Bekanntgabe
der Richtlinie gleichzeitig mit den Informationen über die einzelnen Gebiete
zuzuleiten. Diese Informationen umfassen eine kartographische Darstellung des
Gebietes, seine Bezeichnung, seine geographische Lage, seine Größe sowie die
Daten, die sich aus der Anwendung der in Anhang III (Phase 1) genannten
Kriterien ergeben, und werden anhand eines von der Kommission nach dem
Verfahren des Artikels 21 der Richtlinie ausgearbeiteten Formulars (im
Folgenden: Formular) übermittelt.
- 10.
- Da die Richtlinie am 10. Juni 1992 bekannt gegeben wurde, hätten die
Mitgliedstaaten die Liste der vorgeschlagenen Gebiete und die Informationen
über die einzelnen Gebiete der Kommission vor dem 11. Juni 1995 übermitteln
müssen.
- 11.
- Das Formular wurde erst mit der Entscheidung 97/266/EG der Kommission vom
18. Dezember 1996 über das Formular für die Übermittlung von Informationen zu
den im Rahmen von NATURA 2000 vorgeschlagenen Gebieten (ABl. 1997, L 107, S.
1) ausgearbeitet. Diese Entscheidung wurde den Mitgliedstaaten am 19. Dezember
1996 mitgeteilt und am 24. April 1997 im Amtsblatt der Europäischen
Gemeinschaften veröffentlicht.
Vorverfahren
- 12.
- Da die Kommission der Auffassung war, sie habe von den französischen
Stellen weder die vollständige Liste der Gebiete, in denen die natürlichen
Lebensraumtypen des Anhangs I und die einheimischen Arten des Anhangs II der
Richtlinie vorkommen, noch die Informationen über diese Gebiete und auch
keinerlei sonstige Nachricht erhalten, die darauf hätte schließen lassen, dass
die Französische Republik die notwendigen Maßnahmen ergriffen hatte, um ihren
Verpflichtungen aus Artikel 4 der Richtlinie nachzukommen, forderte sie die
französische Regierung am 27. März 1996 auf, sich binnen zwei Monaten hierzu
zu äußern.
- 13.
- Unter Berücksichtigung der Tatsache, dass das Formular erst ab dem 19.
Dezember 1996 zur Verfügung gestanden hatte, sandte die Kommission der
französischen Regierung am 3. Juli 1997 ein ergänzendes Mahnschreiben. Darin
warf sie ihr erneut vor, nicht die vollständige Liste der Gebiete und die
Informationen über diese Gebiete übermittelt zu haben, und forderte sie auf,
sich binnen eines Monats zu diesem Verstoß gegen Artikel 4 Absatz 1 der
Richtlinie zu äußern. Sie unterstrich insbesondere, dass zur Übermittlung der
betreffenden Daten das Formular zu verwenden sei.
- 14.
- Mit Schreiben vom 21. Oktober 1997 übermittelten die französischen Stellen
eine erste Liste mit 74 Gebieten. Zu lediglich 25 dieser Gebiete wurden
Teilinformationenvorgelegt. Die übrigen 49 Gebiete wurden nur mit Namen
bezeichnet, weder aber ihre Fläche noch die in ihnen vorkommenden natürlichen
Lebensraumtypen oder einheimischen Arten genannt.
- 15.
- Da die Kommission auch nach dem Schriftwechsel mit den französischen
Stellen weiter der Ansicht war, dass die Französische Republik keine
vollständige Liste der Gebiete, in denen die natürlichen Lebensraumtypen des
Anhangs I und die einheimischen Arten des Anhangs II der Richtlinie vorkommen,
zusammen mit den Informationen über diese Gebiete übermittelt habe, sandte sie
diesem Mitgliedstaat am 6. November 1997 eine mit Gründen versehene
Stellungnahme mit der Aufforderung, dieser binnen zwei Monaten nach ihrer
Bekanntgabe nachzukommen.
- 16.
- Mit Schreiben vom 9. Dezember 1997, 22. und 26. Januar, 12. Februar und
17. November 1998 sowie 21. und 28. Januar und 18. Februar 1999 übermittelten
die französischen Stellen der Kommission Listen mit insgesamt 672 Gebieten, in
denen natürliche Lebensraumtypen des Anhangs I und Habitate der Arten des
Anhangs II der Richtlinie vorkommen und die eine Landfläche von 1 453 000 ha
einnehmen, sowie 381 Formulare zu bestimmten dieser Gebiete.
- 17.
- Diese Mitteilungen ließen nach Ansicht der Kommission nicht darauf
schließen, dass die Französische Republik den betreffenden Verstoß beendet
habe. Die Kommission hat daher die vorliegende Klage beim Gerichtshof erhoben.
Zur Zulässigkeit
- 18.
- Die Französische Republik macht geltend, der Teil der Klage, wonach zum
einen angesichts der Zahl der eine Aufnahme in die nationale Liste
verdienenden Gebiete nicht genügend Gebiete vorgeschlagen und zum anderen
Gebiete aus nicht in der Richtlinie vorgesehenen Gründen ausgeschlossen worden
seien, sei für unzulässig zu erklären, da die Kommission diese Rügen nicht in
der mit Gründen versehenen Stellungnahme vorgebracht habe.
- 19.
- Der Gegenstand der nach Artikel 226 EG erhobenen Klage wird durch das in
dieser Vorschrift vorgesehene vorprozessuale Verfahren umschrieben, weshalb
die mit Gründen versehene Stellungnahme der Kommission und die Klage auf
dieselben Rügen gestützt werden müssen (vgl. insbesondere Urteil vom 16.
September 1997 in der Rechtssache C-279/94, Kommission/Italien, Slg. 1997,
I-4743, Randnr. 24).
- 20.
- Dieser Grundsatz schließt jedoch nicht aus, dass die Kommission in der
Klageschrift ihre ursprünglichen Rügen präzisiert, sofern sie nicht den
Streitgegenstand abändert (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. April 2000 in
der Rechtssache C-256/98, Kommission/Frankreich, Slg. 2000, I-2487, Randnrn.
30 und 31).
- 21.
- In ihrer mit Gründen versehenen Stellungnahme hat die Kommission der
Französischen Republik vorgeworfen, weder die vollständige Liste der Gebiete,
die als besondere Schutzgebiete ausgewiesen werden könnten, noch die in
Artikel 4 Absatz 1Unterabsätze 1 und 2 der Richtlinie vorgesehenen zugehörigen
Informationen übermittelt zu haben. Die Kommission hat insoweit ausgeführt,
dass die Teilliste, die die französischen Stellen am 21. Oktober 1997
übermittelt hätten, weder unter geographischen Gesichtspunkten noch bezüglich
der zu erfassenden natürlichen Lebensraumtypen und Habitate der Arten als
vollständige Liste angesehen werden könne und dass die Informationen über die
mitgeteilten Gebiete nicht alle in Betracht kommenden Gebiete beträfen.
- 22.
- In ihrer Klageschrift hat die Kommission dieselben Feststellungen
getroffen wie in der mit Gründen versehenen Stellungnahme. Erstens habe die
Französische Republik kein Gebiet vorgeschlagen, das sich auf Militärgelände
befinde, sondern habe mitgeteilt, dass diejenigen Militärgebiete, die in das
Netz Natura 2000 aufgenommen werden könnten, zu einem späteren Zeitpunkt
übermittelt würden. Zweitens sei für mehrere natürliche Lebensraumtypen des
Anhangs I und mehrere einheimische Arten des Anhangs II der Richtlinie kein
Gebiet vorgeschlagen worden, obwohl sie im französischen Hoheitsgebiet
vorkämen. Drittens werde aus dem Vergleich zwischen den übermittelten Listen
und den verfügbaren wissenschaftlichen Daten zu den in Frankreich vorkommenden
natürlichen Lebensraumtypen und einheimischen Arten deutlich, dass mehrere
dieser Lebensraumtypen und Arten nicht in den betreffenden Listen aufgeführt
seien. Insbesondere habe die französische Regierung beschlossen, von den 1 695
Naturgebieten von ökologischer Bedeutung, die in dem vom Muséum national
d'histoire naturelle unter Leitung der französischen Regierung erstellten
nationalen wissenschaftlichen Verzeichnis nach ihrem Wert erfasst und
eingestuft worden seien, 319 Gebiete auszuschließen. Ferner hätten die
französischen Stellen bei der Auswahl der Gebiete und dem Ausschluss
bestimmter dieser Gebiete Kriterien berücksichtigt, die in der Richtlinie
nicht genannt seien.
- 23.
- Aus dem Vorstehenden ergibt sich, dass die Kommission in ihrer
Klageschrift nicht den Streitgegenstand abgeändert, sondern lediglich die in
ihrer mit Gründen versehenen Stellungnahme vorgebrachte Rüge, dass keine Liste
sämtlicher Gebiete, die als besondere Schutzgebiete ausgewiesen werden
könnten, übermittelt worden sei, erläutert hat, indem sie konkrete Beispiele
für Mängel in den von der Französischen Republik bereits übermittelten Listen
angeführt hat.
- 24.
- Die Unzulässigkeitseinrede der Französischen Republik ist daher
zurückzuweisen.
Zur Begründetheit
Zum ersten Klagegrund
- 25.
- Bezüglich der Verpflichtung, die in Artikel 4 Absatz 1 Unterabsatz 1 der
Richtlinie genannte Liste von Gebieten zu übermitteln, weist die Kommission
darauf hin, dass jeder Mitgliedstaat im Verhältnis der in seinem Hoheitsgebiet
vorhandenen natürlichen Lebensraumtypen und Habitate der Arten, die in den
Anhängen I und II der Richtlinie aufgeführt seien, zur Errichtung eines
kohärenten europäischen ökologischen Netzesbeitrage. Artikel 4 Absatz 1 und
Anhang III der Richtlinie machten deutlich, dass die Mitgliedstaaten bei der
Auswahl der Gebiete für die Liste über einen gewissen Ermessensspielraum
verfügten. Dieser Spielraum hänge jedoch von der Einhaltung folgender drei
Bedingungen ab:
- Die vorzuschlagenden Gebiete dürften nur aufgrund wissenschaftlicher
Kriterien ausgewählt werden;
- die vorgeschlagenen Gebiete müssten eine homogene und für das gesamte
Hoheitsgebiet jedes Mitgliedstaats repräsentative geographische Erfassung
gewährleisten, damit die Kohärenz und das Gleichgewicht des daraus
entstehenden Netzes sichergestellt seien. Die vom Mitgliedstaat vorgeschlagene
Liste müsse daher die ökologische (und bei Arten genetische) Vielfalt der
Lebensraumstypen und Arten in diesem Mitgliedstaat widerspiegeln;
- die Liste müsse vollständig sein, d. h., jeder Mitgliedstaat müsse so
viele Gebiete vorschlagen, dass alle im Hoheitsgebiet dieses Staates
befindlichen natürlichen Lebensraumtypen des Anhangs I und alle Habitate der
Arten des Anhangs II der Richtlinie in ausreichend repräsentativer Weise
berücksichtigt werden könnten.
- 26.
- Zur nationalen französischen Liste trägt die Kommission vor, dass ihr bei
Ablauf der Frist, die in der mit Gründen versehenen Stellungnahme gesetzt
worden sei, also am 6. Januar 1998, eine Liste der Französischen Republik mit
535 Gebieten vorgelegen habe. Zum Zeitpunkt der Klageeinreichung beim
Gerichtshof, am 9. Juni 1999, habe diese Liste 672 Gebiete enthalten, und zum
Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung, am 18. Januar 2001, habe ihr eine Liste
mit insgesamt 1 030 Gebieten vorgelegen.
- 27.
- Die Kommission habe das vorliegende Verfahren angestrengt, um feststellen
zu lassen, dass die nationale französische Liste offensichtlich unzureichend
und deshalb der den Mitgliedstaaten eingeräumte Ermessensspielraum weit
überschritten sei. Dass sie unzureichend sei, sei angesichts der Situation bei
Ablauf der in der mit Gründen versehenen Stellungnahme gesetzten Frist
eindeutig, da die Französische Republik die Zahl der vorgeschlagenen Gebiete
anschließend fast verdoppelt habe. Die Liste sei auch nach wie vor trotz
unbestreitbarer Fortschritte unzureichend. Die nationale französische Liste
entspreche daher nicht den Kriterien nach Artikel 4 Absatz 1 und Anhang III
der Richtlinie.
- 28.
- Die französische Regierung räumt ein, dass der Kommission bei Ablauf der
Frist, die in der mit Gründen versehenen Stellungnahme gesetzt worden sei,
nicht sämtliche Gebiete vorgelegen hätten, die in der in Artikel 4 Absatz 1
Unterabsatz 1 der Richtlinie genannten Liste von Gebieten aufgeführt werden
sollten.
- 29.
- Zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung habe die nationale französische
Liste jedoch insgesamt 1 030 Gebiete mit einer Fläche von ungefähr 5 % des
französischen Hoheitsgebiets umfasst. Die Kommission habe keine Beweise
vorgelegt, mit denenbelegt werden könnte, dass mit dieser Liste von 1 030
Gebieten nicht die Verpflichtung nach Artikel 4 Absatz 1 der Richtlinie
erfüllt worden sei. Während der ersten Phase des Verfahrens zur Ausweisung
besonderer Schutzgebiete gehe es nämlich nicht darum, ein umfassendes
Verzeichnis der in den einzelnen Mitgliedstaaten vorkommenden Gebiete zu
erstellen, die die natürlichen Lebensraumtypen des Anhangs I und die
einheimischen Arten des Anhangs II der Richtlinie beherbergten. Ob die
nationale Liste angemessen sei, sei nicht nach der Zahl der vorgeschlagenen
Gebiete zu beurteilen, sondern nach der Repräsentativität der in der Liste
aufgeführten natürlichen Lebensräume und Habitate der Arten, die insbesondere
unter Berücksichtigung des Grades der Seltenheit dieser Lebensräume und
Habitate und ihrer Verteilung über das nationale Hoheitsgebiet beurteilt
werde.
- 30.
- Zwar ergibt sich aus den Vorschriften des Artikels 4 Absatz 1 der
Richtlinie über das Verfahren zur Bestimmung der Gebiete, die als besondere
Schutzgebiete ausgewiesen werden könnten, dass die Mitgliedstaaten beim
Vorschlag von Gebieten über einen gewissen Ermessensspielraum verfügen, doch
müssen sie, wie die Kommission festgestellt hat, dabei die in der Richtlinie
festgelegten Kriterien beachten.
- 31.
- Um einen Entwurf einer Liste der Gebiete von gemeinschaftlicher Bedeutung
zu erstellen, der zur Errichtung eines kohärenten europäischen ökologischen
Netzes besonderer Schutzgebiete führen kann, muss die Kommission über ein
umfassendes Verzeichnis der Gebiete verfügen, denen auf nationaler Ebene
erhebliche ökologische Bedeutung für das Ziel der Erhaltung der natürlichen
Lebensräume sowie der wild lebenden Tiere und Pflanzen im Sinne der Richtlinie
zukommt. Zu diesem Zweck wird dieses Verzeichnis anhand der in Anhang III
(Phase 1) der Richtlinie festgelegten Kriterien erstellt (Urteil vom 7.
November 2000 in der Rechtssache C-371/98, First Corporate Shipping, Slg.
2000, I-9235, Randnr. 22).
- 32.
- Nur auf diese Weise ist das in Artikel 3 Absatz 1 Unterabsatz 1 der
Richtlinie gesetzte Ziel der Wahrung oder Wiederherstellung eines günstigen
Erhaltungszustands dieser natürlichen Lebensraumtypen und Habitate der Arten
in ihrem natürlichen Verbreitungsgebiet, das sich über eine oder mehrere
Binnengrenzen der Gemeinschaft erstrecken kann, zu erreichen. Wie sich nämlich
aus Artikel 1 Buchstaben e und i in Verbindung mit Artikel 2 Absatz 1 der
Richtlinie ergibt, ist für die Beurteilung des Erhaltungszustands eines
natürlichen Lebensraums oder einer Art auf das gesamte europäische Gebiet der
Mitgliedstaaten, für das der EG-Vertrag Geltung hat, abzustellen (Urteil First
Corporate Shipping, Randnr. 23).
- 33.
- Im Übrigen ist das Vorliegen einer Vertragsverletzung anhand der Situation
zu beurteilen, in der sich der Mitgliedstaat bei Ablauf der Frist befand, die
in der mit Gründen versehenen Stellungnahme gesetzt worden war. Spätere
Veränderungen kann der Gerichtshof daher nicht berücksichtigen (vgl.
insbesondere Urteil vom 8. März 2001 in der Rechtssache C-266/99,
Kommission/Frankreich, Slg. 2001, I-1981, Randnr. 38).
- 34.
- Bei Ablauf der Frist, die in der mit Gründen versehenen Stellungnahme
gesetzt worden war, also am 6. Januar 1998, war der Inhalt der der Kommission
übermittelten nationalen französischen Liste offensichtlich unzureichend und
deshalb der Ermessensspielraum, über den die Mitgliedstaaten bei der
Erstellung der in Artikel 4 Absatz 1 Unterabsatz 1 der Richtlinie genannten
Liste von Gebieten verfügen, weit überschritten. Nach der in der vorstehenden
Randnummer dieses Urteils zitierten Rechtsprechung sind die der Kommission
nach Ablauf dieser Frist übermittelten Listen von Gebieten im Rahmen der
vorliegenden Klage unbeachtlich.
- 35.
- Somit hat die Französische Republik gegen ihre Verpflichtungen aus der
Richtlinie verstoßen, indem sie der Kommission innerhalb der vorgeschriebenen
Frist nicht die in Artikel 4 Absatz 1 Unterabsatz 1 dieser Richtlinie genannte
Liste von Gebieten übermittelt hat.
Zum zweiten Klagegrund
- 36.
- Bezüglich der Verpflichtung zur Übermittlung von Informationen über die
Gebiete, die als besondere Schutzgebiete ausgewiesen werden könnten, räumt die
französische Regierung ein, dass der Kommission diese Informationen bei Ablauf
der Frist, die in der mit Gründen versehenen Stellungnahme gesetzt worden sei,
nicht vorgelegen hätten, macht aber geltend, dass es ihr objektiv unmöglich
gewesen sei, dieser Verpflichtung innerhalb der vorgesehenen Frist
nachzukommen. Die Verspätung, mit der die Kommission das Formular erstellt
habe, habe sich auf das gesamte nationale Verfahren ausgewirkt. Als die
Kommission die Entscheidung 97/266, mit der das Formular erstellt worden sei,
bekannt gegeben habe, seien die französischen Stellen verpflichtet gewesen,
sämtliche bereits in einem nationalen Verzeichnis enthaltenen Daten zu
übertragen und abzuändern.
- 37.
- Die Kommission macht geltend, dass die Verpflichtung zur Übermittlung der
Informationen über die einzelnen Gebiete vor dem 11. Juni 1995 habe erfüllt
werden müssen. Auch wenn man davon ausgehe, dass einige Mitgliedstaaten, die
vor dem 11. Juni 1995 über die Liste der vorgeschlagenen Gebiete und die
entsprechenden Informationen dazu verfügt hätten, auf die Erstellung des
Formulars hätten warten wollen, hätten sie diese Informationen nach
Bekanntgabe des Formulars am 19. Dezember 1996 rasch in dieses übertragen und
der Kommission übermitteln können.
- 38.
- Um der verspäteten Erstellung des Formulars Rechnung zu tragen, habe sie
das Vorverfahren verlängert, indem sie der Französischen Republik am 3. Juli
1997, also lange nach Bekanntgabe des Formulars, ein ergänzenden Mahnschreiben
gesandt habe. Die französischen Stellen seien daher uneingeschränkt in der
Lage gewesen, ihre Verpflichtung zur Übermittlung der Informationen über die
einzelnen Gebiete zu erfüllen. Bei Ablauf der Frist, die in der mit Gründen
versehenen Stellungnahme gesetzt worden sei, also am 6. Januar 1998, hätten
der Kommission aber die Informationen der Französischen Republik über die
vorzuschlagenden Gebiete nicht vorgelegen.
- 39.
- Die Kommission sandte der französischen Regierung zwar zunächst am 27.
März 1996, also vor Bekanntgabe des Formulars, ein Mahnschreiben, doch
richtete sie nach der Bekanntgabe ein neues Mahnschreiben an sie, in dem sie
ihr eine neue Frist gewährte, um Artikel 4 Absatz 1 Unterabsatz 2 der
Richtlinie nachzukommen.
- 40.
- Außerdem wussten die Mitgliedstaaten mit Bekanntgabe der Richtlinie am 10.
Juni 1992, welche Arten von Informationen sie zusammenstellen mussten, um sie
innerhalb von drei Jahren nach der Bekanntgabe, also vor dem 11. Juni 1995, zu
übermitteln. Sie wussten ferner, dass diese Informationen nach Erstellung des
Formulars durch die Kommission mittels dieses Formulars zu übermitteln waren.
Artikel 4 Absatz 1 Unterabsatz 2 der Richtlinie bestimmt ausdrücklich, dass
die Informationen, die mittels eines von der Kommission ausgearbeiteten
Formulars zu übermitteln sind, eine kartographische Darstellung des Gebietes,
seine Bezeichnung, seine geographische Lage, seine Größe sowie die Daten, die
sich aus der Anwendung der in Anhang III (Phase 1) genannten Kriterien
ergeben, umfassen.
- 41.
- Daher ist die Frist, die die Kommission der französischen Regierung für
die Erfüllung der Verpflichtung eingeräumt hat, die Informationen über die
Gebiete, die sie bereits vor dem 11. Juni 1995 besitzen musste, in das
Formular zu übertragen, als angemessen anzusehen. Die französische Regierung
hatte nämlich - vom 19. Dezember 1996, dem Zeitpunkt der Bekanntgabe des
Formulars, bis zum 6. Januar 1998, dem Zeitpunkt des Ablaufs der Frist, die in
der mit Gründen versehenen Stellungnahme gesetzt worden war - über ein Jahr
Zeit, um diesen speziellen Vorgang zu erledigen.
- 42.
- Da die französische Regierung einräumt, dass sie bei Ablauf der Frist, die
in der mit Gründen versehenen Stellungnahme gesetzt worden war, der Kommission
nicht mittels des Formulars die Informationen über die vorzuschlagenden
Gebiete übermittelt hatte, ist festzustellen, dass die Französische Republik
dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus der Richtlinie verstoßen hat, dass sie
der Kommission innerhalb der vorgeschriebenen Frist nicht gemäß Artikel 4
Absatz 1 Unterabsatz 2 der Richtlinie die Informationen über die in der Liste
nach Unterabsatz 1 dieser Bestimmung aufgeführten Gebiete übermittelt hat.
Kosten
- 43.
- Nach Artikel 69 § 2 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei auf
Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da die Französische Republik mit
ihrem Vorbringen unterlegen ist, sind ihr dem Antrag der Kommission
entsprechend die Kosten aufzuerlegen.
Aus diesen Gründen
hat
DER GERICHTSHOF (Sechste Kammer)
für Recht erkannt und entschieden:
1. Die Französische Republik hat dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus
der Richtlinie 92/43/EWG des Rates vom 21. Mai 1992 zur Erhaltung der
natürlichen Lebensräume sowie der wild lebenden Tiere und Pflanzen verstoßen,
dass sie der Kommission innerhalb der vorgeschriebenen Frist nicht die in
Artikel 4 Absatz 1 Unterabsatz 1 dieser Richtlinie genannte Liste von Gebieten
zusammen mit den in Artikel 4 Absatz 1 Unterabsatz 2 der Richtlinie
vorgesehenen Informationen über diese Gebiete übermittelt hat.
2. Die Französische Republik trägt die Kosten des Verfahrens.
Gulmann
Skouris
Schintgen
Macken
Cunha Rodrigues
|
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 11. September 2001.
Der Kanzler
Der Präsident der Sechsten Kammer
R. Grass
C. Gulmann