URTEIL DES GERICHTSHOFES (Sechste Kammer)
11. September 2001 (1)
Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats - Richtlinie 92/43/EWG
- Erhaltung der natürlichen Lebensräume - Erhaltung der wild lebenden Tiere
und Pflanzen - Artikel 4 Absatz 1 - Liste von Gebieten - Informationen über
die Gebiete
In der Rechtssache C-71/99
Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch G. zur
Hausen und P. Stancanelli als Bevollmächtigte, Zustellungsanschrift in
Luxemburg,
gegen
Bundesrepublik Deutschland, vertreten durch W.-D. Plessing und C.-D.
Quassowski als Bevollmächtigte,
wegen Feststellung, dass die Bundesrepublik Deutschland dadurch
gegen ihre Verpflichtungen aus der Richtlinie 92/43/EWG des Rates vom 21. Mai
1992 zur Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wild lebenden Tiere
und Pflanzen (ABl. L 206, S. 7) verstoßen hat, dass sie der Kommission nicht
die in Artikel 4 Absatz 1 Unterabsatz 1 dieser Richtlinie genannte
vollständige Liste von Gebieten zusammen mit den in Artikel 4 Absatz 1
Unterabsatz 2 der Richtlinie vorgesehenen Informationen über diese Gebiete
übermittelt hat,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Sechste Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten C. Gulmann (Berichterstatter) sowie
der Richter V. Skouris und R. Schintgen, der Richterin F. Macken und des
Richters J. N. Cunha Rodrigues,
Generalanwalt: P. Léger
Kanzler: R. Grass
aufgrund des Berichts des Berichterstatters,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 3.
Mai 2001,
folgendes
Urteil
- 1.
- Die Kommission der Europäischen Gemeinschaften hat mit Klageschrift, die
am 1. März 1999 bei der Kanzlei des Gerichtshofes eingegangen ist, gemäß
Artikel 169 EG-Vertrag (jetzt Artikel 226 EG) Klage erhoben auf Feststellung,
dass die Bundesrepublik Deutschland dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus der
Richtlinie 92/43/EWG des Rates vom 21. Mai 1992 zur Erhaltung der natürlichen
Lebensräume sowie der wild lebenden Tiere und Pflanzen (ABl. L 206, S. 7, im
Folgenden: Richtlinie) verstoßen hat, dass sie der Kommission nicht die in
Artikel 4 Absatz 1 Unterabsatz 1 dieser Richtlinie genannte vollständige Liste
von Gebieten zusammen mit den in Artikel 4 Absatz 1 Unterabsatz 2 der
Richtlinie vorgesehenen Informationen über diese Gebiete übermittelt hat.
Das Gemeinschaftsrecht
- 2.
- Nach Artikel 2 der Richtlinie hat diese zum Ziel, zur Sicherung der
Artenvielfalt durch die Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wild
lebenden Tiere und Pflanzen im europäischen Gebiet der Mitgliedstaaten, für
das der EG-Vertrag Geltung hat, beizutragen.
- 3.
- Artikel 3 Absätze 1 und 2 der Richtlinie bestimmt:
(1) Es wird ein kohärentes europäisches ökologisches Netz besonderer
Schutzgebiete mit der Bezeichnung .Natura 2000' errichtet. Dieses Netz besteht
aus Gebieten, die die natürlichen Lebensraumtypen des Anhangs I sowie die
Habitate der Arten des Anhang[s] II umfassen, und muss den Fortbestand oder
gegebenenfalls die Wiederherstellung eines günstigen Erhaltungszustandes
dieser natürlichen Lebensraumtypen und Habitate der Arten in ihrem natürlichen
Verbreitungsgebiet gewährleisten.
Das Netz .Natura 2000' umfasst auch die von den Mitgliedstaaten aufgrund
der Richtlinie 79/409/EWG ausgewiesenen besonderen Schutzgebiete.
(2) Jeder Staat trägt im Verhältnis der in seinem Hoheitsgebiet vorhandenen
in Absatz 1 genannten natürlichen Lebensraumtypen und Habitate der Arten zur
Errichtung von Natura 2000 bei. Zu diese[m] Zweck weist er nach den
Bestimmungen des Artikels 4 Gebiete als besondere Schutzgebiete aus, wobei er
den in Absatz 1 genannten Zielen Rechnung trägt.
- 4.
- Nach Artikel 1 Buchstabe j der Richtlinie ist Gebiet ein geographisch
definierter Bereich mit klar abgegrenzter Fläche. Nach Artikel 1 Buchstabe k
der Richtlinie ist Gebiet von gemeinschaftlicher Bedeutung ein Gebiet, das in
der oder den biogeographischen Region(en), zu welchen es gehört, in
signifikantem Maße dazu beiträgt, einen natürlichen Lebensraumtyp des Anhangs
I oder eine Art des Anhangs II in einem günstigen Erhaltungszustand zu
bewahren oder einen solchen wiederherzustellen, und auch in signifikantem Maße
zur Kohärenz des Netzes Natura 2000 und/oder in signifikantem Maße zur
biologischen Vielfalt in der biogeographischen Region beitragen kann. Bei
Tierarten, die große Lebensräume beanspruchen, entsprechen die Gebiete von
gemeinschaftlichem Interesse den Orten im natürlichen Verbreitungsgebiet
dieser Arten, die die für ihr Leben und ihre Fortpflanzung ausschlaggebenden
physischen und biologischen Elemente aufweisen.
- 5.
- Das in Artikel 4 der Richtlinie festgelegte Verfahren für die Ausweisung
der besonderen Schutzgebiete besteht aus vier Phasen. Als Erstes legt jeder
Mitgliedstaat eine Liste von Gebieten vor, in der die in diesen Gebieten
vorkommenden natürlichen Lebensraumtypen des Anhangs I und einheimischen Arten
des Anhangs II der Richtlinie aufgeführt sind (Artikel 4 Absatz 1). Als
Zweites erstellt die Kommission jeweils im Einvernehmen mit den
Mitgliedstaaten aus den Listen der Mitgliedstaaten den Entwurf einer Liste der
Gebiete von gemeinschaftlicher Bedeutung (Artikel 4 Absatz 2 Unterabsätze 1
und 2). Als Drittes wird die Liste der Gebiete, die als Gebietevon
gemeinschaftlicher Bedeutung ausgewählt wurden, von der Kommission nach dem
Verfahren des Artikels 21 der Richtlinie festgelegt (Artikel 4 Absätze 2
Unterabsatz 3 und 3). Als Viertes weisen die Mitgliedstaaten die Gebiete von
gemeinschaftlicher Bedeutung als besondere Schutzgebiete aus (Artikel 4 Absatz
4).
- 6.
- Speziell in Bezug auf die erste Phase bestimmt Artikel 4 Absatz 1
Unterabsatz 1 der Richtlinie, dass die Mitgliedstaaten die dort genannte Liste
von Gebieten anhand der in Anhang III (Phase 1) der Richtlinie festgelegten
Kriterien und einschlägiger wissenschaftlicher Informationen vorlegen.
- 7.
- Anhang III (Phase 1) Abschnitte A und B der Richtlinie nennt folgende
Kriterien:
A. Kriterien zur Beurteilung der Bedeutung des Gebietes für einen
natürlichen Lebensraumtyp des Anhangs I
a) Repräsentativitätsgrad des in diesem Gebiet vorkommenden natürlichen
Lebensraumtyps.
b) Vom natürlichen Lebensraumtyp eingenommene Fläche im Vergleich zur
Gesamtfläche des betreffenden Lebensraumtyps im gesamten Hoheitsgebiet des
Staates.
c) Erhaltungsgrad der Struktur und der Funktionen des betreffenden
natürlichen Lebensraumtyps und Wiederherstellungsmöglichkeit.
d) Gesamtbeurteilung des Wertes des Gebietes für die Erhaltung des
betreffenden natürlichen Lebensraumtyps.
B. Kriterien zur Beurteilung der Bedeutung des Gebiets für eine gegebene
Art des Anhangs II
a) Populationsgröße und -dichte der betreffenden Art in diesem Gebiet im
Vergleich zu den Populationen im ganzen Land.
b) Erhaltungsgrad der für die betreffende Art wichtigen Habitatselemente
und Wiederherstellungsmöglichkeit.
c) Isolierungsgrad der in diesem Gebiet vorkommenden Population im
Vergleich zum natürlichen Verbreitungsgebiet der jeweiligen Art.
d) Gesamtbeurteilung des Wertes des Gebietes für die Erhaltung der
betreffenden Art.
- 8.
- Nach Anhang III (Phase 1) Abschnitt C der Richtlinie stufen die
Mitgliedstaaten anhand der in Anhang III (Phase 1) Abschnitte A und B
genannten Kriterien die Gebiete, die sie mit der nationalen Liste vorschlagen,
als Gebiete ein, die aufgrundihres relativen Wertes für die Erhaltung
jedes/jeder der in Anhang I bzw. II der Richtlinie genannten natürlichen
Lebensraumtypen bzw. Arten als Gebiete von gemeinschaftlicher Bedeutung
bestimmt werden könnten.
- 9.
- Nach Artikel 4 Absatz 1 Unterabsatz 2 der Richtlinie ist die Liste der
vorgeschlagenen Gebiete der Kommission binnen drei Jahren nach der Bekanntgabe
der Richtlinie gleichzeitig mit den Informationen über die einzelnen Gebiete
zuzuleiten. Diese Informationen umfassen eine kartographische Darstellung des
Gebietes, seine Bezeichnung, seine geographische Lage, seine Größe sowie die
Daten, die sich aus der Anwendung der in Anhang III (Phase 1) genannten
Kriterien ergeben, und werden anhand eines von der Kommission nach dem
Verfahren des Artikels 21 der Richtlinie ausgearbeiteten Formulars (im
Folgenden: Formular) übermittelt.
- 10.
- Da die Richtlinie am 10. Juni 1992 bekannt gegeben wurde, hätten die
Mitgliedstaaten die Liste der vorgeschlagenen Gebiete und die Informationen
über die einzelnen Gebiete der Kommission vor dem 11. Juni 1995 übermitteln
müssen.
- 11.
- Das Formular wurde erst mit der Entscheidung 97/266/EG der Kommission vom
18. Dezember 1996 über das Formular für die Übermittlung von Informationen zu
den im Rahmen von NATURA 2000 vorgeschlagenen Gebieten (ABl. 1997, L 107, S.
1) ausgearbeitet. Diese Entscheidung wurde den Mitgliedstaaten am 19. Dezember
1996 mitgeteilt und am 24. April 1997 im Amtsblatt der Europäischen
Gemeinschaften veröffentlicht.
Vorverfahren
- 12.
- Da die Kommission der Auffassung war, sie habe von den deutschen Stellen
weder die vollständige Liste der Gebiete, in denen die natürlichen
Lebensraumtypen des Anhangs I und die einheimischen Arten des Anhangs II der
Richtlinie vorkommen, noch die Informationen über diese Gebiete und auch
keinerlei sonstige Nachricht erhalten, die darauf hätte schließen lassen, dass
die Bundesrepublik Deutschland die notwendigen Maßnahmen ergriffen hatte, um
ihren Verpflichtungen aus Artikel 4 der Richtlinie nachzukommen, forderte sie
die deutsche Regierung am 4. März 1996 gemäß dem Verfahren des Artikels 169
des Vertrages auf, sich binnen zwei Monaten hierzu zu äußern.
- 13.
- Am 8. August 1996 teilten die deutschen Stellen der Kommission mit, dass
für die Auswahl der Gebiete, die als besondere Schutzgebiete ausgewiesen
werden könnten, nach innerstaatlichen Recht die Bundesländer zuständig seien.
Da diese ihnen mitgeteilt hätten, dass sie diese Auswahl erst dann treffen
würden, wenn die Richtlinie in nationales Recht umgesetzt sei, seien die
deutschen Stellen nicht in der Lage, die vollständige Liste der nationalen
Gebiete zu übermitteln, die als besondere Schutzgebiete ausgewiesen werden
könnten.
- 14.
- Mit Schreiben vom 30. September 1996 sowie 24. und 28. Januar und 11. Juni
1997 übermittelten die deutschen Stellen der Kommission mehrere Listen von
Gebieten in den Ländern Bayern und Sachsen-Anhalt.
- 15.
- Unter Berücksichtigung der Tatsache, dass das Formular erst ab dem 19.
Dezember 1996 zur Verfügung gestanden hatte, sandte die Kommission der
deutschen Regierung am 3. Juli 1997 ein ergänzendes Mahnschreiben. Darin warf
sie ihr erneut vor, nicht die vollständige Liste der Gebiete und die
Informationen über diese Gebiete übermittelt zu haben, und forderte sie auf,
sich binnen eines Monats zu diesem Verstoß gegen Artikel 4 Absatz 1 der
Richtlinie zu äußern. Sie unterstrich insbesondere, dass zur Übermittlung der
betreffenden Daten das Formular zu verwenden sei.
- 16.
- Mit Schreiben vom 21. Oktober 1997 übermittelten die deutschen Stellen
eine Liste von Gebieten im Land Schleswig-Holstein. Mit Schreiben vom 27.
Oktober 1997 wiesen sie nochmals auf die Besonderheit ihres innerstaatlichen
Rechts hin, wonach im betreffenden Bereich die Bundesländer zuständig seien.
Da das Umsetzungsgesetz noch nicht erlassen worden sei, hätten die Länder
nicht die Absicht, die vollständige Liste der Gebiete, die sie auswählen
wollten, zu übermitteln.
- 17.
- Da die Kommission auch nach dem Schriftwechsel mit den deutschen Stellen
weiter der Ansicht war, dass die Bundesrepublik Deutschland keine vollständige
Liste der Gebiete, in denen die natürlichen Lebensraumtypen des Anhangs I und
die einheimischen Arten des Anhangs II der Richtlinie vorkommen, zusammen mit
den Informationen über diese Gebiete übermittelt habe, sandte sie diesem
Mitgliedstaat am 19. Dezember 1997 gemäß Artikel 169 des Vertrages eine mit
Gründen versehene Stellungnahme mit der Aufforderung, dieser binnen zwei
Monaten nach ihrer Bekanntgabe nachzukommen.
- 18.
- Mit Schreiben vom 28. Januar, 13. und 19. März, 10. und 22. September
sowie 14., 20. und 27. Oktober 1998 übermittelten die deutschen Stellen
weitere Listen von Gebieten in Hessen, Thüringen, Bayern, Sachsen-Anhalt, dem
Saarland, Hamburg, Rheinland-Pfalz, Bremen, Niedersachsen und Berlin. Außerdem
übermittelten sie mit Schreiben vom 25. März, 7. April, 11. Mai und 23. Juni
1998 Datenbögen zu den der Kommission zuvor gemeldeten Gebieten. Schließlich
sandten sie der Kommission mit Schreiben vom 14. und 15. April 1998 für jedes
Bundesland eine Übersicht über die zeitlichen Vorstellungen zur Erfüllung der
Verpflichtungen gemäß Artikel 4 Absatz 1 der Richtlinie.
- 19.
- Diese Mitteilungen ließen nach Ansicht der Kommission nicht darauf
schließen, dass die Bundesrepublik Deutschland den betreffenden Verstoß
beendet habe. Die Kommission hat daher die vorliegende Klage beim Gerichtshof
erhoben.
Würdigung durch den Gerichtshof
Zum ersten Klagegrund
- 20.
- Bezüglich der Verpflichtung, die in Artikel 4 Absatz 1 Unterabsatz 1 der
Richtlinie genannte Liste von Gebieten zu übermitteln, weist die Kommission
darauf hin, dass jeder Mitgliedstaat im Verhältnis der in seinem Hoheitsgebiet
vorhandenen natürlichen Lebensraumtypen und Habitate der Arten, die in den
Anhängen I und II der Richtlinie aufgeführt seien, zur Errichtung eines
kohärenten europäischen ökologischen Netzes beitrage. Artikel 4 Absatz 1 und
Anhang III der Richtlinie machten deutlich, dass die Mitgliedstaaten bei der
Auswahl der Gebiete für die Liste über einen gewissen Ermessensspielraum
verfügten. Dieser Spielraum hänge jedoch von der Einhaltung folgender drei
Bedingungen ab:
- Die vorzuschlagenden Gebiete dürften nur aufgrund wissenschaftlicher
Kriterien ausgewählt werden;
- die vorgeschlagenen Gebiete müssten eine homogene und für das gesamte
Hoheitsgebiet jedes Mitgliedstaats repräsentative geographische Erfassung
gewährleisten, damit die Kohärenz und das Gleichgewicht des daraus
entstehenden Netzes sichergestellt seien. Die vom Mitgliedstaat vorgeschlagene
Liste müsse daher die ökologische (und bei Arten genetische) Vielfalt der
Lebensraumstypen und Arten in diesem Mitgliedstaat widerspiegeln;
- die Liste müsse vollständig sein, d. h., jeder Mitgliedstaat müsse so
viele Gebiete vorschlagen, dass alle im Hoheitsgebiet dieses Staates
befindlichen natürlichen Lebensraumtypen des Anhangs I und alle Habitate der
Arten des Anhangs II der Richtlinie in ausreichend repräsentativer Weise
berücksichtigt werden könnten.
- 21.
- Die Kommission habe das vorliegende Verfahren angestrengt, um feststellen
zu lassen, dass die nationale deutsche Liste offensichtlich unzureichend und
deshalb der den Mitgliedstaaten eingeräumte Ermessensspielraum weit
überschritten sei. Dass sie unzureichend sei, sei angesichts der Situation bei
Ablauf der in der mit Gründen versehenen Stellungnahme gesetzten Frist
eindeutig, und obwohl die deutschen Stellen nach diesem Zeitpunkt mehrfach
noch weitere Listen von Gebieten übermittelt hätten, bestünden die ihnen
vorgeworfenen Verstöße fort. Der Vergleich der Vorschläge der deutschen
Stellen mit den von diesen vorgelegten wissenschaftlichen Daten, vor allem dem
vom Bundesamt für Naturschutz herausgegebenen Handbuch Das europäische
Schutzgebietssystem NATURA 2000, belege diese Verstöße vollauf. Die nationale
deutsche Liste entspreche daher nicht den Kriterien nach Artikel 4 Absatz 1
und Anhang III der Richtlinie.
- 22.
- Die deutsche Regierung räumt ein, dass sie bei Ablauf der Frist, die in
der mit Gründen versehenen Stellungnahme gesetzt worden sei, nicht sämtliche
Gebiete übermittelt habe, die sie in die in Artikel 4 Absatz 1 Unterabsatz 1
der Richtlinie genannte Liste von Gebieten aufnehmen wolle. Erstens sei aber
die Einhaltung der in Artikel 4 Absatz 1 Unterabsatz 1 der Richtlinie
vorgesehenen Verpflichtung, eine solche Liste zu übermitteln, davon abhängig
gewesen, dass die Mitgliedstaaten dasFormular erhielten, da erst dieses die
Informationen enthalten habe, die die Auswahl der relevanten Gebiete
ermöglichten. Daher habe die Frist für die Erfüllung dieser Verpflichtung erst
frühestens mit Bekanntgabe des Formulars beginnen können und sei zum Zeitpunkt
der Klageerhebung noch nicht abgelaufen gewesen.
- 23.
- Zweitens werde den Mitgliedstaaten bei der Auswahl der Gebiete, die in der
der Kommission übermittelten Liste aufzuführen seien, durch die Richtlinie ein
weiter Ermessensspielraum eingeräumt. Sie brauchten daher nur diejenigen
Gebiete zu übermitteln, die sie anhand fachlicher Kriterien und unter
Berücksichtigung der Ziele der Richtlinie für die Errichtung eines kohärenten
europäischen Netzes von besonderen Schutzgebieten für geeignet und
erforderlich hielten. Die nationale Ebene eigne sich am besten für eine
angemessene Auswahl unter den Gebieten, in denen die natürlichen
Lebensraumtypen des Anhangs I und die Habitate der Arten des Anhangs II der
Richtlinie vorkämen. Die Mitgliedstaaten hätten nämlich eine bessere Kenntnis
der in ihrem Hoheitsgebiet liegenden Gebiete.
- 24.
- Drittens stellt die deutsche Regierung die wissenschaftlichen Quellen in
Frage, die die Kommission als Beleg dafür herangezogen habe, dass sie eine
unvollständige Liste übermittelt habe. Bei dem in Randnummer 21 dieses Urteils
genannten Handbuch handele es sich weder um die deutsche Referenzliste noch
auch nur um eine wissenschaftlich abgesicherte Beurteilungsgrundlage.
- 25.
- Zunächst ist festzustellen, dass die Verpflichtung, die in Artikel 4
Absatz 1 Unterabsatz 1 der Richtlinie genannte Liste zu übermitteln, nicht von
der Erstellung des Formulars abhing. Denn die Mitgliedstaaten erhielten nicht
erstmals mit diesem Formular die Informationen, die ihnen die Auswahl der
relevanten Gebiete ermöglichen. Mit Bekanntgabe der Richtlinie kannten die
Mitgliedstaaten alle zu berücksichtigenden Auswahlkriterien. Artikel 4 Absatz
1 der Richtlinie bestimmt nämlich, dass jeder Mitgliedstaat anhand der in
Anhang III (Phase 1) festgelegten Kriterien und einschlägiger
wissenschaftlicher Informationen eine Liste von Gebieten vorlegt, in der die
in diesen Gebieten vorkommenden natürlichen Lebensraumtypen des Anhangs I und
einheimischen Arten des Anhangs II der Richtlinie aufgeführt sind. Nach Anhang
III (Phase 1) der Richtlinie sind die einschlägigen Kriterien der
Repräsentativitätsgrad des in dem Gebiet vorkommenden natürlichen
Lebensraumtyps, die vom natürlichen Lebensraumtyp eingenommene Fläche sowie
sein Erhaltungsgrad, die Größe und Dichte der Populationen der betreffenden
Art in diesem Gebiet, ihr Isolierungsgrad, der Erhaltungsgrad ihrer Habitate
und schließlich der relative Wert der Gebiete.
- 26.
- Ferner ergibt sich zwar aus den Vorschriften des Artikels 4 Absatz 1 der
Richtlinie über das Verfahren zur Bestimmung der Gebiete, die als besondere
Schutzgebiete ausgewiesen werden könnten, dass die Mitgliedstaaten beim
Vorschlag von Gebieten über einen gewissen Ermessensspielraum verfügen, doch
müssen sie, wie die Kommission festgestellt hat, dabei die in der Richtlinie
festgelegten Kriterien beachten.
- 27.
- Um einen Entwurf einer Liste der Gebiete von gemeinschaftlicher Bedeutung
zu erstellen, der zur Errichtung eines kohärenten europäischen ökologischen
Netzesbesonderer Schutzgebiete führen kann, muss die Kommission über ein
umfassendes Verzeichnis der Gebiete verfügen, denen auf nationaler Ebene
erhebliche ökologische Bedeutung für das Ziel der Erhaltung der natürlichen
Lebensräume sowie der wild lebenden Tiere und Pflanzen im Sinne der Richtlinie
zukommt. Zu diesem Zweck wird dieses Verzeichnis anhand der in Anhang III
(Phase 1) der Richtlinie festgelegten Kriterien erstellt (Urteil vom 7.
November 2000 in der Rechtssache C-371/98, First Corporate Shipping, Slg.
2000, I-9235, Randnr. 22).
- 28.
- Nur auf diese Weise ist das in Artikel 3 Absatz 1 Unterabsatz 1 der
Richtlinie gesetzte Ziel der Wahrung oder Wiederherstellung eines günstigen
Erhaltungszustands dieser natürlichen Lebensraumtypen und Habitate der Arten
in ihrem natürlichen Verbreitungsgebiet, das sich über eine oder mehrere
Binnengrenzen der Gemeinschaft erstrecken kann, zu erreichen. Wie sich nämlich
aus Artikel 1 Buchstaben e und i in Verbindung mit Artikel 2 Absatz 1 der
Richtlinie ergibt, ist für die Beurteilung des Erhaltungszustands eines
natürlichen Lebensraums oder einer Art auf das gesamte europäische Gebiet der
Mitgliedstaaten, für das der EG-Vertrag Geltung hat, abzustellen (Urteil First
Corporate Shipping, Randnr. 23).
- 29.
- Schließlich ist das Vorliegen einer Vertragsverletzung anhand der
Situation zu beurteilen, in der sich der Mitgliedstaat bei Ablauf der Frist
befand, die in der mit Gründen versehenen Stellungnahme gesetzt worden war.
Spätere Veränderungen kann der Gerichtshof daher nicht berücksichtigen (vgl.
insbesondere Urteil vom 8. März 2001 in der Rechtssache C-266/99,
Kommission/Frankreich, Slg. 2001, I-1981, Randnr. 38).
- 30.
- Bei Ablauf der Frist, die in der mit Gründen versehenen Stellungnahme
gesetzt worden war, also am 19. Februar 1998, war der Inhalt der der
Kommission übermittelten nationalen deutschen Liste offensichtlich
unzureichend und deshalb der Ermessensspielraum, über den die Mitgliedstaaten
bei der Erstellung der in Artikel 4 Absatz 1 Unterabsatz 1 der Richtlinie
genannten Liste von Gebieten verfügen, weit überschritten. Nach der in der
vorstehenden Randnummer dieses Urteils zitierten Rechtsprechung sind die der
Kommission nach Ablauf dieser Frist übermittelten Listen von Gebieten im
Rahmen der vorliegenden Klage unbeachtlich.
- 31.
- Somit hat die Bundesrepublik Deutschland gegen ihre Verpflichtungen aus
der Richtlinie verstoßen, indem sie der Kommission innerhalb der
vorgeschriebenen Frist nicht die in Artikel 4 Absatz 1 Unterabsatz 1 dieser
Richtlinie genannte Liste von Gebieten übermittelt hat.
Zum zweiten Klagegrund
- 32.
- Bezüglich der Verpflichtung zur Übermittlung von Informationen über die
Gebiete, die als besondere Schutzgebiete ausgewiesen werden könnten,
bestreitet die deutsche Regierung nicht, dass der Kommission diese
Informationen bei Ablauf der Frist, die in der mit Gründen versehenen
Stellungnahme gesetzt worden sei, nicht vorgelegenhätten, macht aber geltend,
dass die notwendigen Vorarbeiten für die Beschaffung der Informationen über
die vorzuschlagenden Gebiete, für die den Mitgliedstaaten ein Zeitraum von
drei Jahren zur Verfügung gestanden habe, de facto erst frühestens nach
Bekanntgabe des Formulars an die Mitgliedstaaten Ende 1996 hätten beginnen
können.
- 33.
- Die Kommission macht geltend, dass die Verpflichtung zur Übermittlung der
Informationen über die einzelnen Gebiete vor dem 11. Juni 1995 habe erfüllt
werden müssen. Auch wenn man davon ausgehe, dass einige Mitgliedstaaten, die
vor dem 11. Juni 1995 über die Liste der vorgeschlagenen Gebiete und die
entsprechenden Informationen dazu verfügt hätten, auf die Erstellung des
Formulars hätten warten wollen, hätten sie diese Informationen nach
Bekanntgabe des Formulars am 19. Dezember 1996 rasch in dieses übertragen und
der Kommission übermitteln können.
- 34.
- Um der verspäteten Erstellung des Formulars Rechnung zu tragen, habe sie
das Vorverfahren verlängert, indem sie der Bundesrepublik Deutschland am 3.
Juli 1997, also lange nach Bekanntgabe des Formulars, ein ergänzenden
Mahnschreiben gesandt habe. Die deutschen Stellen seien daher uneingeschränkt
in der Lage gewesen, ihre Verpflichtung zur Übermittlung der Informationen
über die einzelnen Gebiete zu erfüllen. Bei Ablauf der Frist, die in der mit
Gründen versehenen Stellungnahme gesetzt worden sei, also am 19. Februar 1998,
hätten der Kommission aber die Informationen der Bundesrepublik Deutschland
über die vorzuschlagenden Gebiete nicht vorgelegen.
- 35.
- Die Kommission sandte der deutschen Regierung zwar zunächst am 4. März
1996, also vor Bekanntgabe des Formulars, ein Mahnschreiben, doch richtete sie
nach der Bekanntgabe ein neues Mahnschreiben an sie, in dem sie ihr eine neue
Frist gewährte, um Artikel 4 Absatz 1 Unterabsatz 2 der Richtlinie
nachzukommen.
- 36.
- Außerdem wussten die Mitgliedstaaten mit Bekanntgabe der Richtlinie am 10.
Juni 1992, welche Arten von Informationen sie zusammenstellen mussten, um sie
innerhalb von drei Jahren nach der Bekanntgabe, also vor dem 11. Juni 1995, zu
übermitteln. Sie wussten ferner, dass diese Informationen nach Erstellung des
Formulars durch die Kommission mittels dieses Formulars zu übermitteln waren.
Artikel 4 Absatz 1 Unterabsatz 2 bestimmt ausdrücklich, dass die
Informationen, die mittels eines von der Kommission ausgearbeiteten Formulars
zu übermitteln sind, eine kartographische Darstellung des Gebietes, seine
Bezeichnung, seine geographische Lage, seine Größe sowie die Daten, die sich
aus der Anwendung der in Anhang III (Phase 1) genannten Kriterien ergeben,
umfassen.
- 37.
- Daher ist die Frist, die die Kommission der deutschen Regierung für die
Erfüllung der Verpflichtung eingeräumt hat, die Informationen über die
Gebiete, die sie bereits vor dem 11. Juni 1995 besitzen musste, in das
Formular zu übertragen, als angemessen anzusehen. Die deutsche Regierung hatte
nämlich - vom 19. Dezember 1996, dem Zeitpunkt der Bekanntgabe des Formulars,
bis zum 19. Februar 1998, dem Zeitpunkt des Ablaufs der Frist, die in der mit
Gründen versehenen Stellungnahme gesetzt worden war - über ein Jahr Zeit, um
diesen speziellen Vorgang zu erledigen.
- 38.
- Da die deutsche Regierung einräumt, dass sie bei Ablauf der Frist, die in
der mit Gründen versehenen Stellungnahme gesetzt worden war, der Kommission
nicht mittels des Formulars die Informationen über die vorzuschlagenden
Gebiete übermittelt hatte, ist festzustellen, dass die Bundesrepublik
Deutschland dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus der Richtlinie verstoßen
hat, dass sie der Kommission innerhalb der vorgeschriebenen Frist nicht gemäß
Artikel 4 Absatz 1 Unterabsatz 2 der Richtlinie die Informationen über die in
der Liste nach Unterabsatz 1 dieser Bestimmung aufgeführten Gebiete
übermittelt hat.
Kosten
- 39.
- Nach Artikel 69 § 2 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei auf
Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da die Bundesrepublik
Deutschland mit ihrem Vorbringen unterlegen ist, sind ihr dem Antrag der
Kommission entsprechend die Kosten aufzuerlegen.
Aus diesen Gründen
hat
DER GERICHTSHOF (Sechste Kammer)
für Recht erkannt und entschieden:
1. Die Bundesrepublik Deutschland hat dadurch gegen ihre Verpflichtungen
aus der Richtlinie 92/43/EWG des Rates vom 21. Mai 1992 zur Erhaltung der
natürlichen Lebensräume sowie der wild lebenden Tiere und Pflanzen verstoßen,
dass sie der Kommission innerhalb der vorgeschriebenen Frist nicht die in
Artikel 4 Absatz 1 Unterabsatz 1 dieser Richtlinie genannte Liste von Gebieten
zusammen mit den in Artikel 4 Absatz 1 Unterabsatz 2 der Richtlinie
vorgesehenen Informationen über diese Gebiete übermittelt hat.
2. Die Bundesrepublik Deutschland trägt die Kosten des Verfahrens.
Gulmann
Skouris
Schintgen
Macken
Cunha Rodrigues
|
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 11. September 2001.
Der Kanzler
Der Präsident der Sechsten Kammer
R. Grass
C. Gulmann