URTEIL DES GERICHTSHOFES
7. November 2000 (1)
Richtlinie 92/43/EWG - Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen - Abgrenzung von Gebieten, die als besondere Schutzgebiete ausgewiesen werden könnten - Ermessen der Mitgliedstaaten - Wirtschaftliche und soziale Erwägungen - Mündungsgebiet des Severn
In der Rechtssache C-371/98
betreffend ein dem Gerichtshof nach Artikel 177 EG-Vertrag (jetzt Artikel 234 EG) vom High Court of Justice (England & Wales), Queen's Bench Division (Divisional Court) (Vereinigtes Königreich), in dem bei diesem anhängigen Rechtsstreit
The Queen
gegen
Secretary of State for the Environment, Transport and the Regions,
ex parte: First Corporate Shipping Ltd,
Beteiligte:
World Wide Fund for Nature UK (WWF)
und
Avon Wildlife Trust,
erlässt
DER GERICHTSHOF
unter Mitwirkung des Präsidenten G. C. Rodríguez Iglesias, der Kammerpräsidenten C. Gulmann (Berichterstatter), M. Wathelet und V. Skouris sowie der Richter D. A. O. Edward, J.-P. Puissochet, P. Jann, L. Sevón und R. Schintgen
Generalanwalt: P. Léger
Kanzler: H. A. Rühl, Hauptverwaltungsrat
unter Berücksichtigung der schriftlichen Erklärungen
-der First Corporate Shipping Ltd, vertreten durch G. Barling, QC, und die Barrister M. Shaw und M. Hoskins, beauftragt durch Arnheim Tite & Lewis, Solicitors,
-des World Wide Fund for Nature UK (WWF) und des Avon Wildlife Trust, vertreten durch die Barrister P. Sands und J. H. Marks, beauftragt durch Leigh Day & Co., Solicitors,
-der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch Assistant Treasury Solicitor J. E. Collins als Bevollmächtigten im Beistand von R. Drabble, QC,
-der finnischen Regierung, vertreten durch H. Rotkirch und T. Pynnä, Valtionasiamiehet, als Bevollmächtigte,
-der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch R. B. Wainwright, Hauptrechtsberater, und P. Stancanelli, Juristischer Dienst, als Bevollmächtigte,
aufgrund des Sitzungsberichts,
nach Anhörung der mündlichen Ausführungen der First Corporate Shipping Ltd, des World Wide Fund for Nature UK (WWF) und der Avon Wildlife Trust, der Regierung des Vereinigten Königreichs, der finnischen Regierung und der Kommission in der Sitzung vom 7. Dezember 1999,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 7. März 2000,
folgendes
Gemeinschaftsrecht
(1)Diese Richtlinie hat zum Ziel, zur Sicherung der Artenvielfalt durch die Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen im europäischen Gebiet der Mitgliedstaaten, für das der Vertrag Geltung hat, beizutragen.
(2)Die aufgrund dieser Richtlinie getroffenen Maßnahmen zielen darauf ab, einen günstigen Erhaltungszustand der natürlichen Lebensräume und wildlebenden Tier- und Pflanzenarten von gemeinschaftlichem Interesse zu bewahren oder wiederherzustellen.
(3)Die aufgrund dieser Richtlinie getroffenen Maßnahmen tragen den Anforderungen von Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur sowie den regionalen und örtlichen Besonderheiten Rechnung.
(1)Anhand der in Anhang III (Phase 1) festgelegten Kriterien und einschlägiger wissenschaftlicher Informationen legt jeder Mitgliedstaat eine Liste von Gebieten vor, in der die in diesen Gebieten vorkommenden natürlichen Lebensraumtypen des Anhangs I und einheimischen Arten des Anhangs II aufgeführt sind. Bei Tierarten, die große Lebensräume beanspruchen, entsprechen diese Gebiete den Orten im natürlichen Verbreitungsgebiet dieser Arten, welche die für ihr Leben und ihre Fortpflanzung ausschlaggebenden physischen und biologischen Elemente aufweisen. Für im Wasser lebende Tierarten, die große Lebensräume beanspruchen, werden solche Gebiete nur vorgeschlagen, wenn sich ein Raum klar abgrenzen lässt, der die für das Leben und die Fortpflanzung dieser Arten ausschlaggebenden physischen und biologischen Elemente aufweist. Die Mitgliedstaaten schlagen gegebenenfalls die Anpassung dieser Liste im Lichte der Ergebnisse der in Artikel 11 genannten Überwachung vor.
Binnen drei Jahren nach der Bekanntgabe dieser Richtlinie wird der Kommission diese Liste gleichzeitig mit den Informationen über die einzelnen Gebiete zugeleitet. Diese Informationen umfassen eine kartographische Darstellung des Gebietes, seine Bezeichnung, seine geographische Lage, seine Größe sowie die Daten, die sich aus der Anwendung der in Anhang III (Phase 1) genannten Kriterien ergeben, und werden anhand eines von der Kommission nach dem Verfahren des Artikels 21 ausgearbeiteten Formulars übermittelt.
(2)Auf der Grundlage der in Anhang III (Phase 2) festgelegten Kriterien und im Rahmen der fünf in Artikel 1 Buchstabe c) Ziffer iii) erwähnten biogeographischen Regionen sowie des in Artikel 2 Absatz 1 genannten Gesamtgebietes erstellt die Kommission jeweils im Einvernehmen mit den Mitgliedstaaten aus den Listen der Mitgliedstaaten den Entwurf einer Liste der Gebiete von gemeinschaftlicher Bedeutung, in der die Gebiete mit einem oder mehreren prioritären natürlichen Lebensraumtyp(en) oder einer oder mehreren prioritären Art(en) ausgewiesen sind.
Die Mitgliedstaaten, bei denen Gebiete mit einem oder mehreren prioritären natürlichen Lebensraumtyp(en) und einer oder mehreren prioritären Art(en) flächenmäßig mehr als 5 v. H. des Hoheitsgebiets ausmachen, können im Einvernehmen mit der Kommissionbeantragen, dass die in Anhang III (Phase 2) angeführten Kriterien bei der Auswahl aller in ihrem Hoheitsgebiet liegenden Gebiete von gemeinschaftlicher Bedeutung flexibler angewandt werden.
Die Liste der Gebiete, die als Gebiete von gemeinschaftlicher Bedeutung ausgewählt wurden und in der die Gebiete mit einem oder mehreren prioritären natürlichen Lebensraumtyp(en) oder einer oder mehreren prioritären Art(en) ausgewiesen sind, wird von der Kommission nach dem Verfahren des Artikels 21 festgelegt.
(3)Die in Absatz 2 erwähnte Liste wird binnen sechs Jahren nach Bekanntgabe dieser Richtlinie erstellt.
(4)Ist ein Gebiet aufgrund des in Absatz 2 genannten Verfahrens als Gebiet von gemeinschaftlicher Bedeutung bezeichnet worden, so weist der betreffende Mitgliedstaat dieses Gebiet so schnell wie möglich - spätestens aber binnen sechs Jahren - als besonderes Schutzgebiet aus und legt dabei die Prioritäten nach Maßgabe der Wichtigkeit dieser Gebiete für die Wahrung oder die Wiederherstellung eines günstigen Erhaltungszustandes eines natürlichen Lebensraumtyps des Anhangs I oder einer Art des Anhangs II und für die Kohärenz des Netzes Natura 2000 sowie danach fest, inwieweit diese Gebiete von Schädigung oder Zerstörung bedroht sind.
(5)Sobald ein Gebiet in die Liste des Absatzes 2 Unterabsatz 3 aufgenommen ist, unterliegt es den Bestimmungen des Artikels 6 Absätze 2, 3 und 4.
KRITERIEN ZUR AUSWAHL DER GEBIETE, DIE ALS GEBIETE VON GEMEINSCHAFTLICHER BEDEUTUNG BESTIMMT UND ALS BESONDERE SCHUTZGEBIETE AUSGEWIESEN WERDEN KÖNNTEN
PHASE 1:Für jeden natürlichen Lebensraumtyp des Anhangs I und jede Art des Anhangs II (einschließlich der prioritären natürlichen Lebensraumtypen und der prioritären Arten) auf nationaler Ebene vorzunehmende Beurteilung der relativen Bedeutung der Gebiete
A.Kriterien zur Beurteilung der Bedeutung des Gebietes für einen natürlichen Lebensraumtyp des Anhangs I
a)Repräsentativitätsgrad des in diesem Gebiet vorkommenden natürlichen Lebensraumtyps.
b)Vom natürlichen Lebensraumtyp eingenommene Fläche im Vergleich zur Gesamtfläche des betreffenden Lebensraumtyps im gesamten Hoheitsgebiet des Staates.
c)Erhaltungsgrad der Struktur und der Funktionen des betreffenden natürlichen Lebensraumtyps und Wiederherstellungsmöglichkeit.
d)Gesamtbeurteilung des Wertes des Gebietes für die Erhaltung des betreffenden natürlichen Lebensraumtyps.
B.Kriterien zur Beurteilung der Bedeutung des Gebiets für eine gegebene Art des Anhangs II
a)Populationsgröße und -dichte der betreffenden Art in diesem Gebiet im Vergleich zu den Populationen im ganzen Land.
b)Erhaltungsgrad der für die betreffende Art wichtigen Habitatselemente und Wiederherstellungsmöglichkeit.
c)Isolierungsgrad der in diesem Gebiet vorkommenden Population im Vergleich zum natürlichen Verbreitungsgebiet der jeweiligen Art.
d)Gesamtbeurteilung des Wertes des Gebietes für die Erhaltung der betreffenden Art.
C.Anhand dieser Kriterien stufen die Mitgliedstaaten die Gebiete, die sie mit der nationalen Liste vorschlagen, als Gebiete ein, die aufgrund ihres relativen Werts für die Erhaltung jedes/jeder der in Anhang I bzw. II genannten natürlichen Lebensraumtypen bzw. Arten als Gebiete von gemeinschaftlicher Bedeutung bestimmt werden könnten.
D.In dieser Liste werden die Gebiete aufgeführt, die die prioritären natürlichen Lebensraumtypen und Arten beherbergen, die von den Mitgliedstaaten anhand der Kriterien der Abschnitte A und B ausgewählt wurden.
...
(2) Die Mitgliedstaaten treffen die geeigneten Maßnahmen, um in den besonderen Schutzgebieten die Verschlechterung der natürlichen Lebensräume und der Habitate der Arten sowie Störungen von Arten, für die die Gebiete ausgewiesen worden sind, zu vermeiden, sofern solche Störungen sich im Hinblick auf die Ziele dieser Richtlinie erheblich auswirken könnten.
(3)Pläne oder Projekte, die nicht unmittelbar mit der Verwaltung des Gebietes in Verbindung stehen oder hierfür nicht notwendig sind, die ein solches Gebiet jedoch einzeln oder in Zusammenwirkung mit anderen Plänen und Projekten erheblich beeinträchtigen könnten, erfordern eine Prüfung auf Verträglichkeit mit den für dieses Gebiet festgelegten Erhaltungszielen. Unter Berücksichtigung der Ergebnisse derVerträglichkeitsprüfung und vorbehaltlich des Absatzes 4 stimmen die zuständigen einzelstaatlichen Behörden dem Plan bzw. Projekt nur zu, wenn sie festgestellt haben, dass das Gebiet als solches nicht beeinträchtigt wird, und nachdem sie gegebenenfalls die Öffentlichkeit angehört haben.
(4)Ist trotz negativer Ergebnisse der Verträglichkeitsprüfung aus zwingenden Gründen des überwiegenden öffentlichen Interesses einschließlich solcher sozialer oder wirtschaftlicher Art ein Plan oder Projekt durchzuführen und ist eine Alternativlösung nicht vorhanden, so ergreift der Mitgliedstaat alle notwendigen Ausgleichsmaßnahmen, um sicherzustellen, dass die globale Kohärenz von Natura 2000 geschützt ist. Der Mitgliedstaat unterrichtet die Kommission über die von ihm ergriffenen Ausgleichsmaßnahmen.
Ist das betreffende Gebiet ein Gebiet, das einen prioritären natürlichen Lebensraumtyp und/oder eine prioritäre Art einschließt, so können nur Erwägungen im Zusammenhang mit der Gesundheit des Menschen und der öffentlichen Sicherheit oder im Zusammenhang mit maßgeblichen günstigen Auswirkungen für die Umwelt oder, nach Stellungnahme der Kommission, andere zwingende Gründe des überwiegenden öffentlichen Interesses geltend gemacht werden.
Ausgangsrechtsstreit und Vorabentscheidungsfrage
Kann oder muss ein Mitgliedstaat den in Artikel 2 Absatz 3 der Richtlinie 92/43/EWG des Rates zur Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen (ABl. 1992, L 206, S. 7) genannten Erwägungen, d. h. den Anforderungen von Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur sowie den regionalen und örtlichen Besonderheiten, Rechnung tragen, wenn er darüber entscheidet, welche Gebiete er der Kommission nach Artikel 4 Absatz 1 dieser Richtlinie vorschlagen soll, und/oder wenn er die Grenzen dieser Gebiete festlegt?
Zur Vorabentscheidungsfrage
Kosten
Aus diesen Gründen
hat
DER GERICHTSHOF
auf die ihm vom High Court of Justice (England & Wales), Queen's Bench Division (Divisional Court), mit Beschluss vom 21. Juli 1998 vorgelegte Frage für Recht erkannt:
Nach Artikel 4 Absatz 1 der Richtlinie 92/43/EWG des Rates vom 21. Mai 1992 zur Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen darf ein Mitgliedstaat den Anforderungen von Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur sowie den regionalen und örtlichen Besonderheiten, wie sie in Artikel 2 Absatz 3 dieser Richtlinie genannt sind, nicht Rechnung tragen, wenn er über die Auswahl und Abgrenzung der Gebiete entscheidet, die der Kommission zur Bestimmung als Gebiete von gemeinschaftlicher Bedeutung vorgeschlagen werden sollen.
Rodríguez Iglesias Wathelet
Skouris Puissochet
Jann Schintgen
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Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 7. November 2000.
Der Kanzler
R. Grass
1: Verfahrenssprache: Englisch.