SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS
SIEGBERT ALBER
vom 15. Februar 2000(1)
Rechtssache C-374/98
Kommission der Europäischen Gemeinschaften
gegen
Französische Republik
Vertragsverletzung - Vogelschutz - Besondere Schutzgebiete
I - Einführung
- 1.
- Die Kommission betreibt das vorliegende Vertragsverletzungsverfahren
gegen die Französische Republik aus mehreren Gründen.
- 2.
- Einmal macht sie einen Verstoß gegen Artikel 4 Absätze 1 und 2 der
Richtlinie 79/409/EWG über die Erhaltung der wildlebenden Vogelarten(2) (im
folgenden: Vogelschutz-Richtlinie) geltend; Frankreich habe es unterlassen, das
Gebiet Basses Corbières zu einem besonderen Schutzgebiet für bestimmte
Vogelarten im Sinne des Anhangs I der Richtlinie(3) sowie für bestimmte
Zugvogelarten auszuweisen. Frankreich habe gleichzeitig keine besonderen
Schutzmaßnahmen für die Lebensräume dieser Vogelarten ergriffen.
- 3.
- Zum anderen rügt die Kommission einen Verstoß gegen Artikel 6 Absätze
2, 3 und 4 der Richtlinie 92/43/EWG zur Erhaltung der natürlichen Lebensräume
sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen(4) (im folgenden: Habitat-Richtlinie).
Frankreich wird in diesem Zusammenhang vorgeworfen, es habe keine geeigneten
Maßnahmen getroffen, um eine Verschlechterung der natürlichen Lebensräume
sowie um - sich erheblich auswirken könnende - Störungen der in diesem Gebiet
ansässigen Arten zu vermeiden. Die Verschlechterungen bzw. Störungen würden
sich - so die Kommission - aus der Eröffnung und dem Betrieb eines
Kalksteinbruchs auf dem Gebiet der Gemeinden Tautavel und Vingrau ergeben.
II - Die anwendbaren Vorschriften
1.Die Vogelschutz-Richtlinie
- 4.
- Als Vorbemerkung sei erwähnt, daß die Vogelschutz-Richtlinie gemäß
Artikel 1 für alle wildlebenden Vogelarten gilt. Für die in Anhang I genannten
besonderen Vogelarten und für Zugvögel gelten gemäß Artikel 4 besondere
(strengere) Schutzmaßnahmen.
- 5.
- Der neunte Erwägungsgrund der Vogelschutz-Richtlinie postuliert:
Schutz, Pflege oder Wiederherstellung einer ausreichenden Vielfalt und einer
ausreichenden Flächengröße der Lebensräume ist für die Erhaltung aller
Vogelarten unentbehrlich; für einige Vogelarten müssen besondere Maßnahmen
zur Erhaltung ihres Lebensraums getroffen werden, um Fortbestand und
Fortpflanzung dieser Arten in ihrem Verbreitungsgebiet zu gewährleisten; diese
Maßnahmen müssen auch die Zugvogelarten berücksichtigen und im Hinblick auf
die Schaffung eines zusammenhängenden Netzes koordiniert werden.
Diese Vorgabe für einige besondere Vogelarten wird durch Artikel 4 der Richtlinie
konkretisiert. Er lautet:
Artikel 4
(1) Auf die in Anhang I aufgeführten Arten sind besondere Schutzmaßnahmen
hinsichtlich ihrer Lebensräume anzuwenden, um ihr Überleben und ihre
Vermehrung in ihrem Verbreitungsgebiet sicherzustellen.
In diesem Zusammenhang ist folgendes zu berücksichtigen:
a)vom Aussterben bedrohte Arten,
b)gegen bestimmte Veränderungen ihrer Lebensräume empfindliche Arten,
c)Arten, die wegen ihres geringen Bestands oder ihrer beschränkten örtlichen
Verbreitung als selten gelten,
d)andere Arten, die aufgrund des spezifischen Charakters ihres Lebensraums
einer besonderen Aufmerksamkeit bedürfen.
Bei den Bewertungen werden Tendenzen und Schwankungen der Bestände der
Vogelarten berücksichtigt.
Die Mitgliedstaaten erklären insbesondere die für die Erhaltung dieser Arten
zahlen- und flächenmäßig geeignetsten Gebiete zu Schutzgebieten, wobei die
Erfordernisse des Schutzes dieser Arten in dem geographischen Meeres- und
Landgebiet, in dem diese Richtlinie Anwendung findet, zu berücksichtigen sind.
(2) Die Mitgliedstaaten treffen unter Berücksichtigung der Schutzerfordernisse in
dem geographischen Meeres- und Landgebiet, in dem diese Richtlinie Anwendung
findet, entsprechende Maßnahmen für die nicht in Anhang I aufgeführten,
regelmäßig auftretenden Zugvogelarten hinsichtlich ihrer Vermehrungs-, Mauser-
und Überwinterungsgebiete sowie der Rastplätze in ihren Wanderungsgebieten. Zu
diesem Zweck messen die Mitgliedstaaten dem Schutz der Feuchtgebiete und ganz
besonders der international bedeutsamen Feuchtgebiete besondere Bedeutung bei.
(3) ...
(4) Die Mitgliedstaaten treffen geeignete Maßnahmen, um die Verschmutzung oder
Beeinträchtigung der Lebensräume sowie die Belästigung der Vögel, sofern sich
diese auf die Zielsetzungen dieses Artikels erheblich auswirken, in den Absätzen
1 und 2 genannten Schutzbegieten zu vermeiden. Die Mitgliedstaaten bemühen sich
ferner, auch außerhalb dieser Schutzgebiete die Verschmutzung oder
Beeinträchtigung der Lebensräume zu vermeiden.
2.Die Habitat-Richtlinie
- 6.
- Die Zielsetzung der Habitat-Richtlinie wird durch Artikel 2 Absatz 1
folgendermaßen definiert:
(1) Diese Richtlinie hat zum Ziel, zur Sicherung der Artenvielfalt durch die
Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen
im europäischen Gebiet der Mitgliedstaaten, für das der Vertrag Geltung hat,
beizutragen.
Dabei läßt Absatz 3 der Vorschrift folgende Einschränkung zu:
(3) Die aufgrund dieser Richtlinie getroffenen Maßnahmen tragen den
Anforderungen von Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur sowie den regionalen und
örtlichen Besonderheiten Rechnung.
- 7.
- Hinsichtlich der natürlichen Lebensräume unterscheidet die Habitat-Richtlinie zwischen Gebieten von gemeinschaftlicher Bedeutung und besonderen
Schutzgebieten, die jedoch u. U. deckungsgleich sein können. Die Liste der
erstgenannten Gebiete wird nach Artikel 4 Absatz 2 dritter Unterabsatz von der
Kommission nach dem Verfahren des Artikels 21 festgelegt. Die besonderen
Schutzgebiete (im folgenden gesperrt gedruckt oder mit BSG abgekürzt) dagegen
werden von den Mitgliedstaaten selbst bestimmt. Es heißt hierzu in Artikel 1:
Im Sinne dieser Einrichtung bedeutet:
a) bis k) ...
l).Besonderes Schutzgebiet': ein von den Mitgliedstaaten durch eine Rechts-
oder Verwaltungsvorschrift und/oder eine vertragliche Vereinbarung als ein
von gemeinschaftlicher Bedeutung ausgewiesenes Gebiet, ...
m) und n) ...
- 8.
- Gemäß Artikel 3 Absatz 1 Unterabsatz 1 erster Satz: ... wird ein
kohärentes europäisches ökologisches Netz besonderer Schutzgebiete mit der
Bezeichnung .Natura 2000' errichtet.
Artikel 3 Absatz 1 Unterabsatz 2 sagt: Das Netz .Natura 2000' umfaßt auch die
von den Mitgliedstaaten aufgrund der Richtlinie 79/409/EWG ausgewiesenen
besonderen Schutztgebiete.
- 9.
- Zum Gegenstand und den Rechtspflichten in einem besonderen
Schutzgebiet heißt es in Artikel 6 der Habitat-Richtlinie:
Artikel 6
(1) Für die besonderen Schutzgebiete legen die Mitgliedstaaten die nötigen
Erhaltungsmaßnahmen fest, die gegebenenfalls geeignete, eigens für die Gebiete
aufgestellte oder in andere Entwicklungspläne integrierte Bewirtschaftungspläne
und geeignete Maßnahmen rechtlicher, administrativer oder vertraglicher Art
umfassen, die den ökologischen Erfordernissen der natürlichen Lebensraumtypen
nach Anhang I und der Arten nach Anhang II entsprechen, die in diesen Gebieten
vorkommen.
(2) Die Mitgliedstaaten treffen die geeigneten Maßnahmen, um in den besonderen
Schutzgebieten die Verschlechterung der natürlichen Lebensräume und der
Habitate der Arten sowie Störungen von Arten, für die die Gebiete ausgewiesen
worden sind, zu vermeiden, sofern solche Störungen sich im Hinblick auf die Ziele
dieser Richtlinie erheblich auswirken könnten.
(3) Pläne oder Projekte, die nicht unmittelbar mit der Verwaltung des Gebietes in
Verbindung stehen oder hierfür nicht notwendig sind, die ein solches Gebiet jedoch
einzeln oder in Zusammenwirkung mit anderen Plänen und Projekten erheblich
beeinträchtigen könnten, erfordern eine Prüfung auf Verträglichkeit mit den für
dieses Gebiet festgelegten Erhaltungszielen. Unter Berücksichtigung der Ergebnisse
der Verträglichkeitsprüfung und vorbehaltlich des Absatzes 4 stimmen die
zuständigen einzelstaatlichen Behörden dem Plan bzw. Projekt nur zu, wenn sie
festgestellt haben, daß das Gebiet als solches nicht beeinträchtigt wird, und
nachdem sie gegebenenfalls die Öffentlichkeit angehört haben.
(4) Ist trotz negativer Ergebnisse der Verträglichkeitsprüfung aus zwingenden
Gründen des überwiegenden öffentlichen Interesses einschließlich solcher sozialer
oder wirtschaftlicher Art ein Plan oder Projekt durchzuführen und ist eine
Alternativlösung nicht vorhanden, so ergreift der Mitgliedstaat alle notwendigen
Ausgleichsmaßnahmen, um sicherzustellen, daß die globale Kohärenz von Natura
2000 geschützt ist. Der Mitgliedstaat unterrichtet die Kommission über die von ihm
ergriffenen Ausgleichsmaßnahmen.
Ist das betreffende Gebiet ein Gebiet, das einen prioritären natürlichen
Lebensraumtyp und/oder eine prioritäre Art einschließt, so können nur
Erwägungen im Zusammenhang mit der Gesundheit des Menschen und der
öffentlichen Sicherheit oder im Zusammenhang mit maßgeblichen günstigen
Auswirkungen für die Umwelt oder, nach Stellungnahme der Kommission, andere
zwingende Gründe des überwiegenden öffentlichen Interesses geltend gemacht
werden.
- 10.
- Im Hinblick auf die BSG nach der Vogelschutz-Richtlinie heißt es in Artikel
7 der Habitat-Richtlinie:
Artikel 7
Was die nach Artikel 4 Absatz 1 der Richtlinie 79/409/EWG zu besonderen
Schutzgebieten erklärten oder nach Artikel 4 Absatz 2 derselben Richtlinie als
solche anerkannten Gebiete anbelangt, so treten die Verpflichtungen nach Artikel
6 Absätze 2, 3 und 4 der vorliegenden Richtlinie ab dem Datum für die
Anwendung der vorliegenden Richtlinie bzw. danach ab dem Datum, zu dem das
betreffende Gebiet von einem Mitgliedstaat entsprechend der Richtlinie
79/409/EWG zum besonderen Schutzgebiet erklärt oder als solches anerkannt wird,
an die Stelle der Pflichten, die sich aus Artikel 4 Absatz 4 Satz 1 der Richtlinie
79/409/EWG ergeben.
- 11.
- Diese Vorschriften werden durch den siebten und zehnten Erwägungsgrund
der Richtlinie folgendermaßen erläutert:
Alle ausgewiesenen Gebiete sind in das zusammenhängende europäische
ökologische Netz einzugliedern, und zwar einschließlich der nach der Richtlinie
79/409/EWG ... derzeit oder künftig als besondere Schutzgebiete ausgewiesenen
Gebiete.
Pläne und Projekte, die sich auf die mit der Ausweisung eines Gebietes verfolgten
Erhaltungsziele wesentlich auswirken könnten, sind einer angemessenen Prüfung
zu unterziehen.
III - Sachverhalt und Verfahren
- 12.
- Die Kommission wurde mit der Sache durch eine Beschwerde befaßt, die
das Vorhaben der Eröffnung eines Kalksteinbruchs auf dem Gebiet der Gemeinden
Tautavel und Vingrau im Departement Pyrénées-Orientales zum Gegenstand hat.
- 13.
- In dem Gebiet Basses Corbières leben eine Reihe besonders
schützenswerter Vogelarten, die - jedenfalls einige von ihnen - in Anhang I der
Vogelschutz-Richtlinie aufgeführt werden(5), allen voran ein Habichtsadlerpärchen,
das einer Art angehört, die vom Aussterben bedroht ist.(6) Das Gebiet liegt
außerdem in einem Korridor der Zugvogelwanderungen von europäischer
Bedeutung. Die französischen Behörden haben die Basses Corbières unter der
Bezeichnung ZICO LR07 mit einer Fläche von 47 400 Hektar in ein Verzeichnis
der Gebiete von Bedeutung für die Erhaltung wildlebender Vogelarten (Zones
Importantes pour la Conservation des Oiseaux sauvages, ZICO) aufgenommen.
Innerhalb dieses Gebietes haben die französischen Behörden durch eine Biotop-Verordnung (arrêté de biotope)(7) im Jahre 1991 eine Fläche von rund 231 Hektar
in erster Linie zum Schutz der Habichtsadler auf dem Gebiet der Gemeinden
Vingrau und Tautavel zum Biotop erklärt. Gleichzeitig wurde eine vergleichbare
Verordnung(8) für eine rund 123 Hektar große Fläche, ebenfalls in dem Gebiet
Basses Corbières gelegen, verabschiedet. Durch eine dritte Verordnung(9) kam ein
weiteres Gebiet von 280 Hektar hinzu.
- 14.
- Die Kommission erlangte davon Kenntnis, daß die Gesellschaft OMYA am
4. November 1994 die Genehmigung zum Kalksteinabbau über Tage auf dem
Gebiet der Gemeinden Vingrau und Tautavel erhalten hatte, ebenso für die
Errichtung von Verarbeitungseinrichtungen vor Ort. Die Gesellschaft OMYA
betreibt seit 1968 einen Kalksteinbruch auf dem Gebiet der Gemeinde Tautavel.
Da die Erschöpfung der Kalksteinvorhaben absehbar ist, beantragte die
Gesellschaft die Genehmigung zum Kalksteinabbau in dem bezeichneten Gebiet,
da dort Kalksteinvorkommen gleicher Art und Güte vorhanden sind. Geologisch
betrachtet handelt es sich um die Verlängerung des Vorkommens in ein anderes
Gemeindegebiet hinein.
- 15.
- Gegner des Vorhabens haben die Genehmigung vor den mitgliedstaatlichen
Gerichten angefochten. Sie haben den mitgliedstaatlichen Rechtsweg erschöpft. Es
ist davon auszugehen, daß die Genehmigung letztinstanzlich für bestandskräftig
erklärt worden ist.
- 16.
- Die Kommission geht davon aus, daß der Kalksteinabbau schwerwiegende
Folgen für die Umwelt zeitige. Die Kommission hat daher mit Schreiben vom 10.
November 1994 die Aufmerksamkeit der französischen Behörden auf das Vorhaben
gelenkt. Diese antworteten mit Schreiben vom 19. September 1995. Da dieses
Schreiben nach Ansicht der Kommission nicht geeignet war, den Verdacht einer
Vertragsverletzung auszuräumen, eröffnete sie mit einem am 2. Juli 1996
notifizierten Aufforderungsschreiben das Vertragsverletzungsverfahren. Die
französische Regierung antwortete durch Schreiben ihrer ständigen Vertretung vom
28. November 1996. Nach dessen Inhalt war die Kommission der Ansicht, daß die
Französische Republik ihren Verpflichtungen aus der Vogelschutz-Richtlinie und
der Habitat-Richtlinie nicht nachgekommen sei, weshalb sie unter dem 19.
Dezember 1997 eine begründete Stellungnahme an die französische Regierung
richtete, unter Fristsetzung von zwei Monaten. Im Antwortschreiben vom 12. Juni
1998, der Kommission zugestellt am 22. Juli 1998, wiesen die französischen
Behörden auf einen Konflikt zwischen Befürwortern und Gegner des
Kalksteinabbaus in Vingrau hin, der eine Vermittlung erforderlich gemacht habe,
bei deren Abschluß das Verfahren zur Ausweisung besonderer Schutzgebiete im
Sinne der Vogelschutz-Richtlinie in Angriff genommen werde.
- 17.
- Mit Schriftsatz vom 14. Oktober 1998, eingetragen ins Register des
Gerichtshofes am 16. Oktober 1998, hat die Kommission gegen die Französische
Republik Klage erhoben mit dem Antrag
-festzustellen, daß die Französische Republik gegen ihre Verpflichtungen aus
dem Vertrag verstoßen hat, indem sie das Gebiet Basses Corbières nicht
als besonderes Schutzgebiet für bestimmte Vogelarten im Sinne von Anhang
I der Richtlinie 79/409/EWG sowie bestimmte von Anhang I nicht erfaßte
Zugvogelarten eingestuft hat, und indem sie unter Verstoß gegen Artikel 4
Absätze 1 und 2 der Richtlinie keine besonderen Schutzmaßnahmen in
bezug auf ihre Lebensräume ergriffen hat, ferner, indem sie unter Verstoß
gegen Artikel 6 Absätze 2, 3 und 4 der Richtlinie 92/43/EWG im Gebiet
Basses Corbières nicht die geeigneten Maßnahmen ergriffen hat, um
Störungen der in diesem Gebiet geschützten Arten und Verschlechterungen
ihrer Lebensräume zu verhindern, die sich erheblich auswirken können und
die sich als Folge der Eröffnung und des Betriebes von Kalksteinbrüchen
auf dem Gebiet der Gemeinden Tautavel und Vingrau ergeben;
-der Französischen Republik die Kosten des Vefahrens aufzuerlegen.
- 18.
- Die französische Regierung ersucht das Gericht - ohne ausdrücklichen
Antrag -, den ersten Klagegrund als teilweise unbegründet zu beurteilen und den
zweiten Klagegrund zurückzuweisen.
- 19.
- Die französische Regierung erkennt an, daß die förmliche Ausweisung
besonderer Schutzgebiete nicht rechtzeitig vorgenommen wurde. Abgesehen davon
habe sie jedoch geeignete Maßnahmen ergriffen, um die ornithologischen
Interessen der Basses Corbières zu schützen, so daß sie im Einklang mit Artikel
4 Absätze 1 und 2 der Vogelschutz-Richtlinie stünden. Der erste Klagegrund sei
daher teilweise unbegründet.
- 20.
- Im Hinblick auf den zweiten Klagegrund macht die französische Regierung
geltend, das Vorhaben des Kalksteinabbaus sei Gegenstand einer umfassenden
Verträglichkeitsprüfung gewesen. Den Anforderungen des Artikels 6 Absätze 3 und
4 der Habitat-Richtlinie sei daher Genüge getan. Der zweite Klagegrund sei daher
zurückzuweisen.
- 21.
- Der Gerichtshof hat Fragen an die Beteiligten zur schriftlichen
Beantwortung gerichtet. Von beiden Beteiligten hat er eine Antwort auf eine Frage
mit im wesentlichen sinngemäß folgendem Inhalt erbeten: Gemäß Artikel 7 der
Habitat-Richtlinie tritt die Substitution der sich aus Artikel 4 Absatz 4 der
Vogelschutz-Richtlinie ergebenden Pflichten durch Artikel 6 Absätze 2 bis 4 der
Habitat-Richtlinie nur ein für bereits zu besonderen Schutzgebieten erklärte bzw. als
solche anerkannte Gebiete. Im Gebiet der Basses Corbières war jedenfalls zum
Zeitpunkt des Ablaufs der in der begründeten Stellungnahme gesetzten Frist (20.
Februar 1998) kein besonderes Schutzgebiet ausgewiesen. Die Beteiligten mögen
bitte erläutern, warum sie dennoch von der Anwendbarkeit des Artikels 6 Absätze
2 bis 4 der Habitat-Richtlinie auf den vorliegenden Fall ausgehen.
- 22.
- Während die Kommission dies eingehend erläutert, vertritt die französische
Regierung den Standpunkt, Artikel 6 Absätze 2 bis 4 der Habitat-Richtlinie komme
nicht zur Anwendung. Der zweite Klagegrund sei daher unzulässig, auf jeden Fall
aber unbegründet.
- 23.
- Der Gerichtshof hat überdies einige Angaben von der Kommission erbeten
hinsichtlich der Erwähnung der Basses Corbières in einer ornithologischen
Bestandsaufnahme für Europa, genannt Important Bird Areas in Europe, sowie
Angaben zu der jeweiligen Ausdehnung besonderer Schutzgebiete im Verhältnis zu
den Gebieten von Bedeutung für die Erhaltung wildlebender Vogelarten, genannt
ZICO(10), und schließlich zu den über das Gebiet der Basses Corbières
verlaufenden Wanderungsachsen der Zugvögel.
Die Kommission hat all diese Fragen mit Hilfe von Listen, Karten und Schemata
ausführlich beantwortet.
- 24.
- Auf das Vorbringen der Beteiligten wird im Rahmen der jeweils
aufgeworfenen Rechtsfragen zurückzukommen sein.
IV - Zum ersten Klagegrund
1.Vortrag der Beteiligten
- 25.
- Die Kommission macht mit dem ersten Klagegrund einen Verstoß gegen
Artikel 4 der Vogelschutz-Richtlinie geltend und zwar in mehrfacher Hinsicht. Zum
einen hätten es die französischen Behörden pflichtwidrig unterlassen, das Gebiet
der Basses Corbières zum besonderen Schutzgebiet im Sinne der Vorschrift
auszuweisen, was als Verstoß sowohl gegen Absatz 1 des Artikels 4 zu betrachten
sei, weil in diesem Gebiet mehrere schutzwürdige Arten im Sinne des Anhangs I
der Richtlinie beheimatet seien, als auch gegen Absatz 2 des Artikels 4, da das
Gebiet von Bedeutung sei für die Wanderungsbewegungen der Zugvögel. Im
Hinblick auf andere Schutzmaßnahmen im Sinne des Artikels 4 Absatz 1 sei die
Französische Republik dieser Verpflichtung nur teilweise nachgekommen. Die
nationale Biotop-Verordnung Nr. 774/91 beziehe sich nur auf den Schutz des
Habichtsadlers. Weder für die anderen in dem Gebiet beheimateten besonders
schutzwürdigen Vogelarten noch für die das Gebiet frequentierenden Zugvögel
seien spezielle Schutzmaßnahmen ergriffen worden.
- 26.
- Die Kommission erinnert in ihrer Replik ausdrücklich daran, daß
maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung des Vorliegens einer
Vertragsverletzung das Ende der in der begründeten Stellungnahme gesetzten Frist
- hier also der 20. Februar 1998 - sei. Die spätere Ausweisung besonderer
Schutzgebiete könne daran nichts ändern. Selbst wenn man aber die 1999 erfolgten
bzw. beabsichtigten Ausweisungen in Rechnung stelle, sei die Fläche der besonderen
Schutzgebiete als ungenügend zu betrachten, betrage sie doch nur 1,35 % der ZICO.
Um die Bedeutung der Region für den [32703mVogelschutz zu belegen, stützt sich die
Kommission in ihrer Replik auf eine Studie von März 1999 zur Bezeichnung der
Gebiete von Bedeutung für die Erhaltung der Vögel in Frankreich (ZICO).
Demnach ist nach Ansicht der Kommission eine Gesamtfläche von mindestens
10 950 Hektar zu besonderen Schutzgebieten zu erklären. Es handele sich dabei um
Gegenden von vitalem Interesse für die Raubvögel. Darüber hinaus seien Gebiete
mit einer Gesamtfläche von 16 600 Hektar, die vornehmlich als Jagdgebiete für die
Raubvögel dienen, besonders schutzwürdig und deshalb für eine Ausweisung als
besondere Schutzgebiete geeignet. Auf jeden Fall müßten Beeinträchtigungen dieser
Gebiete im Sinne des Artikels 4 Absatz 4 der Vogelschutz-Richtlinie vermieden
werden. Die Kommission hält die Gesamtfläche dieser beschriebenen Zonen von
insgesamt 27 550 Hektar, die 58 % der ZICO entsprechen, als einen geeigneten
Bezugsrahmen zur Bestimmung der geeignetsten Gebiete für die Erhaltung der
geschützten Arten. Nach Einschätzung einheimischer Sachverständiger falle das
Gebiet, auf dem der Kalksteinbruch von Vingrau geplant ist, in diese
schützenswerten Zonen.
- 27.
- Schließlich lasse der Umstand, daß in jüngster Zeit die Habichtsadler aus
der Gegend verschwunden seien, darauf schließen, daß ihnen ein ungenügender
Schutz zuteil geworden sei. Die Kommission sei auch nicht über etwaige
strafrechtlichen Schritte informiert, die nach dem Verschwinden der Vögel
unternommen worden seien. Alles in allem seien keine ausreichenden
Schutzmaßnahmen im Sinne der Vogelschutz-Richtlinie ergriffen worden.
- 28.
- Die französische Regierung erkennt an, daß besondere Schutzgebiete der
Vogelschutz-Richtlinie in dem Gebiet der Basses Corbières verspätet ausgewiesen
wurden.(11) Diese Verspätung sei auf einen Konflikt zwischen Befürwortern und
Gegnern des Vorhabens zur Ausdehnung des Kalksteinabbaus zurückzuführen. Die
Gegner des Projekts hätten die Vogelschutz-Richtlinie benutzt um die Realisierung
des Vorhabens zu verhindern, obwohl selbst die örtlichen Vogelschutzvereinigungen
der Ansicht seien, daß das Projekt mit dem Vogelschutz vereinbar sei. Sie hätten
im übrigen alle Rechtsbehelfe der mitgliedstaatlichen Rechtsordnung erschöpft, um
das Projekt zu verhindern, was schließlich dazu geführt habe, daß der Conseil
d'Etat die Klage wegen Mißbrauchs abgewiesen und den Ausschuß zur
Verteidigung von Vingrau (Comité de defense de Vingrau) wegen des Mißbrauchs
mit einer Geldbuße von 10 000 FRF belegt habe.(12)
- 29.
- Der Konflikt sei vor einem wirtschaftlich und sozial angespannten
Hintergrund zu sehen. Die in Tautavel abgebauten Kalksteinvorkommen würden
in der Fabrik von Salses verarbeitet. Deren Betrieb garantiere unmittelbar oder
mittelbar rund 200 Arbeitsplätze und das in einem Gebiet, das durch eine
überdurchschnittliche Arbeitslosigkeit von 17,5 % gegenüber einem nationalen
Durchschnitt von 12 % geprägt sei. Das Bruttosozialprodukt der Region sei mit
92 800 FRF unterdurchschnittlich gegenüber dem nationalen Durchschnitt von
122 000 FRF. Die Region Languedoc-Roussillon rangiere wirtschaftlich betrachtet
vor Korsika auf dem vorletzten Platz.
- 30.
- Der Konflikt zwischen Befürwortern und Gegnern des Kalksteinabbaus hätte
derartige Ausmaße angenommen, daß man die ehemalige Ministerin für Umwelt,
Frau Bouchardeau, zur Vermittlerin bestellt habe. Eine endgültige Befriedung der
Situation sei immer noch nicht erreicht.
- 31.
- Der Konflikt an sich sei zwar keine Rechtfertigung für die verspätete
Ausweisung besonderer Schutzgebiete, er sei jedoch eine Erklärung für die Haltung
der französischen Behörden. Im Interesse des Überlebens der seltenen Art der
Habichtsadler sei es nicht opportun gewesen, die Vögel in den Mittelpunkt des
Konflikts zu rücken.
- 32.
- Zur mitgliedstaatlichen Verpflichtung zur Ausweisung besonderer
Schutzgebiete weist die französische Regierung darauf hin, daß der Mitgliedstaat ein
gewisses Ermessen bei der Auswahl der jeweiligen Gebiete habe. Auch bestehe
keine Pflicht, daß jede ZICO notwendig in ihrer gesamten Ausdehnung zu einem
besonderen Schutzgebiet ausgewiesen werde. Die Kommission habe in ihrer
Klageschrift keine Angaben gemacht, wo die auszuweisenden besonderen
Schutzgebiete genau zu lokalisieren seien, handele es sich bei der ZICO LR07
Basses Corbières immerhin um ein Gebiet von rund 47 000 Hektar. Unter
Hinweis auf Ausführungen in dem Verzeichnis über die ZICO in Frankreich stellt
die französische Regierung fest, daß sich auf den großen Gebieten von ZICO's, wo
gelegentlich auch mit der Anwesenheit von Menschen gerechnet werden müsse, nur
die wichtigsten Teilgebiete zur Ausweisung als besondere Schutzgebiete eigneten,
sozusagen der harte Kern des ornithologisch interessanten Gebietes. Die ZICO im
Gebiet der Basses Corbières umfasse das Gebiet zweier Departements(13) und sei
daher nur ein Referenzrahmen, innerhalb dessen die für den Vogelschutz
geeignetsten Gebiete festzulegen seien. Gerade bei Raubvögeln, die naturgemäß
ein großes Jagdrevier hätten, beabsichtige die französische Regierung nicht, die
gesamte Fläche zum besonderen Schutzgebiet zu erklären. Im übrigen sei es auch
schwierig, das Jagdgebiet eines Raubvogels genau zu bestimmen, da es abhängig
von der Jahreszeit und den tatsächlich vorhandenen Nahrungsquellen sei. Zur
Ausdehnung des Jagdreviers eines Habichtsadlers finde man in der
wissenschaftlichen Literatur Angaben von 20 km2 bis zu 300 km2. Das Jagdgebiet
eines Steinadlers - der sich im Laufe der letzten Jahre erst in dem Gebiet der
Basses Corbières angesiedelt habe - werde mit 160 km2 beschrieben.
- 33.
- In diesem Zusammenhang weist die französische Regierung auch auf die
Schlußanträge des Generalanwalts Fennelly in der Rechtssache C-166/97 hin, der
davon ausgeht, daß die Mitgliedstaaten ermutigt werden [sollten], zur Erfüllung
ihrer Einstufungspflicht aus der Richtlinie eine umfassende Bestandsaufnahme ihres
Staatsgebiets durchzuführen. Es wäre ... kontraproduktiv, wenn jedes Gebiet, das
als zum Schutz wildlebender Vögel geeignet betrachtet wird, so behandelt würde,
daß es automatisch als BSG ausgewiesen werden müßte.(14)
- 34.
- Bei der Bezeichung besondere Schutzgebiete in der Region Basses
Corbières hätten sich die französischen Behörden ausschließlich von
ornithologischen Kriterien leiten lassen. Gemäß jüngsten Äußerungen der Groupe
Ornithologique Roussillonnais (GOR) und der Groupe de Recherche et
d'Information sur les Vertébrés et leur Environnement (GRIVE) sowie der
ökologischen Bilanz der Verträglichkeitsprüfungen zum Vorhaben des
Kalksteinabbaus auf dem Gebiet der Gemeinden Vingrau und Tautavel
beherbergen die Basses Corbières eine klassisch mediterrane Vogelwelt
brütender Vögel. Abgesehen vom Habichtsadler seien diese Vögel nicht selten. Zur
besonderen Schutzwürdigkeit des Habichtsadlers hingegen gebe es mehrere
Rechtsakte.(15) Die feste Absicht der französischen Regierung, den Habichtsadler
zu schützen, würde durch den Erlaß von 19 Biotop-Verordnungen, davon allein 12
im Languedoc-Roussillon, belegt, die ausdrücklich zum Schutz der Habichtsadler
sowie anderer Arten verabschiedet worden seien.
- 35.
- Im Hinblick auf andere von der Kommission genannte schutzwürdige Arten
in der Region erinnert die französische Regierung zum einen daran, daß große
Raubvögel in der Regel an landschaftlich vergleichbaren Orten nisten wie die
Habichtsadler und zum anderen, daß sich ihre Anwesenheit in unterschiedlichen
Formen zeige. So könnten sie als nistend, seßhaft oder als Zugvögel auftreten. Die
Kriterien für die Ausweisung eines besonderen Schutzgebiets würden in erster Linie
den Vogelarten in Anhang I der Vogelschutz-Richtlinie Rechnung tragen, die
seßhaft oder regelmäßig nistend seien. So seien die Kornweihe (circus cyanus), die
Zwergtrappe (tetrax tetrax) und die Blauracke (coratius garrulus) nur als
gelegentlich in der Region nistend anzusehen.
- 36.
- Im Hinblick auf die Zugvögel - ob in Anhang I der Vogelschutz-Richtlinie
genannt oder nicht - sei zu bedenken, daß die Region eher eine Durchgangszone
als ein Gebiet der Rast oder Nahrungsaufnahme sei. Einige Arten wie der
Weißstorch (ciconia ciconia), der Schwarzstorch (ciconia nigra), der Schwarzmilan
(milvus migrans) und die Wiesenweihe (circus pygargurs) könnten zwar zur Rast
oder beim Fressen beobachtet werden, doch gebe es in den Basses Corbières
kein größeres Sammlungsgebiet, wie es etwa an den Küstenseen zu beobachten sei.
Außerdem werde das Überfliegen der Basses Corbières von den
Windverhältnissen beeinflußt. Bei vom Meer kommender Brise Richtung Süd-Ost
- Nord-West zwinge der Wind die Vögel den ersten Bergrücken zu überfliegen.
Dagegen verschiebe der Wind Richtung Nord-West - Süd-Ost die Flugschneise zu
den Ausläufern außerhalb der ZICO und könne den Vogelflug sogar unterbrechen.
Zudem sei nach Kenntnis der französischen Regierung keine wissenschaftliche
Zählung der Zugvögel über den Basses Corbières unternommen worden, so daß
keine verläßlichen Aussagen über die Anzahl der regelmäßig dieses Gebiet
passierenden Vögel gemacht werden könnten. Es sei daher wissenschaftlich
fundiert, wenn sich Frankreich bei seiner Vogelschutzpolitik in den Basses
Corbières vornehmlich dem Habichtsadler gewidmet habe, wobei auch die
anderen in der Region beheimateten Vogelarten berücksichtigt worden seien.
- 37.
- Allein für das Gebiet der Basses Corbières seien drei Biotop-Verordnungen erlassen worden. Diese schützten vier Nistplätze der Habichtsadler,
davon zwei auf dem Gebiet der Gemeinden Tautavel und Vingrau und zwei auf
dem Gebiet der Gemeinden Maury, Vlanèzes und Raziguières. Geschützt sei
schließlich eine Region auf dem Gebiet der Gemeinde Feuilla im Departement
Aude mit einer Oberfläche von 280 Hektar. Es gehe ausdrücklich aus dem Text
und aus dem jeweiligen Anhang der Biotop-Verordnungen hervor, daß sie außer
zum Schutz der Habichtsadler auch für mindestens 13 andere gemäß Anhang I der
Vogelschutz-Richtlinie schützenswerte Arten erlassen worden seien.(16)
2.Würdigung
- 38.
- Zum ersten Vorwurf des ersten Klagegrundes, der pflichtwidrigen
Nichtausweisung besonderer Schutzgebiete in den Basses Corbières, erübrigt sich
eine abstrakte Prüfung der Pflichtenlage, da die französische Regierung das
Versäumnis ausdrücklich zugestanden hat. Da es für die reine Feststellung der
Vertragsverletzung auf die Situation bei Ablauf der in der begründeten
Stellungnahme gesetzten Frist ankommt(17), vermag auch die spätere Ausweisung
besonderer Schutzgebiete den Verstoß nicht zu heilen. Da es im Rahmen dieses
ersten Vorwurfs um die förmliche Ausweisung geht, kommt es hier auch noch nicht
auf den Inhalt der Biotop-Verordnungen an. Die Feststellung einer
Vertragsverletzung wegen Mißachtung der sich aus Artikel 4 Absatz 1 der
Vogelschutz-Richtlinie fließenden Pflichten kann also bereits auf dieser Grundlage
vorgenommen werden, ohne daß eine Evaluierung der geographischen
Lokalisierung und der flächenmäßigen Ausdehnung auszuweisender besonderer
Schutzgebiete vorgenommen werden müßte.
- 39.
- Im Hinblick auf den zweiten Vorwurf des ersten Klagegrundes, das
Unterlassen des Ergreifens besonderer Schutzmaßnahmen hinsichtlich der
Lebensräume der in Anhang I der Vogelschutz-Richtlinie aufgeführten Arten im
Sinne des Artikels 4 Absatz 1 erster Satz, verhält es sich anders. Artikel 4 Absatz
1 gebietet den Mitgliedstaaten besondere Schutzmaßnahmen zu ergreifen, von
denen die Ausweisung besonderer Schutzgebiete nur eine - wenn auch bevorzugte
(insbesondere) - ist. Laut Artikel 4 Absatz 2 gilt ein vergleichbares Regime
(entsprechende Maßnahmen) für die nicht in Anhang I aufgeführten, regelmäßig
auftretenden Zugvogelarten hinsichtlich ihrer Vermehrungs-, Mauser- und
Überwinterungsgebiete sowie der Rastplätze in ihren Wanderungsgebieten.
- 40.
- Unstreitig sind in den Basses Corbières eine Reihe der in Anhang I der
Vogelschutz-Richtlinie aufgeführten Vogelarten beheimatet. Uneinigkeit besteht
zwischen den Beteiligten allenfalls im Hinblick auf einige Arten, wobei vor allem
die Frage, ob es sich bei den betreffenden Arten in dieser Region um seßhafte,
gelegentlich nistende oder um Zugvögel handelt, uneinheitlich beurteilt wird.
Sowohl die Kommission als auch die französische Regierung stützen sich in ihren
Behauptungen auf ornithologisches Fachwissen, dessen Wertungen durch den
Gerichtshof nicht ersetzt werden sollen.
- 41.
- Soweit es sich um in Anhang I genannte Arten handelt, kommt ihnen schon
nach rein juristischer Bewertung der besondere Schutzstatus des Artikels 4 Absatz
1 der Vogelschutz-Richtlinie zugute. Die Vorschrift unterscheidet gerade nicht nach
einer bestimmten Lebensform der Vögel bzw. ihrer biologischen Einordnung,
sondern verweist in toto auf die Aufzählung des Anhangs I.
- 42.
- Für die weitere Prüfung kann und muß davon ausgegangen werden, daß
verschiedene in Anhang I der Vogelschutz-Richtlinie aufgeführte Vogelarten in
einer Größenordnung zwischen 10 und 20 Arten in den Basses Corbières
angesiedelt sind. Ein besonderes Augenmerk ist dabei nach übereinstimmender
Wertung durch die Beteiligten auf die Raubvögel und unter diesen wiederum auf
den Habichtsadler, als eine in Europa vom Aussterben bedrohte Art, zu lenken.
Auch insofern haben beide Beteiligten des Verfahrens den Habichtsadler in ihrer
Argumentation in den Vordergrund gerückt. Dabei zielen die Vorwürfe der
Kommission allerdings mehr in die Richtung, die französischen Behörden hätten
alle anderen schutzwürdigen Arten vernachlässigt.
- 43.
- Es ist daher in erster Linie zu prüfen, ob für diese schützenswerten Arten
besondere Schutzmaßnahmen ergriffen wurden. Bei der Beurteilung dieser Frage
kann es von Bedeutung sein, ob etwaige Schutzmaßnahmen geeignet und in
ausreichendem Maße ergriffen wurden. Sodann ist eine vergleichbare Prüfung
hinsichtlich der nicht in Anhang I der Vogelschutz-Richtlinie aufgeführten
Zugvogelarten im Hinblick auf die in Artikel 4 Absatz 2 konkretisierten Umstände
anzustellen. Als Schutzmaßnahmen im Sinne der Vorschrift kommen die von der
französischen Regierung erwähnten Biotop-Verordnungen Nrn. 773/91, 774/91 und
95.0226 aus den Jahren 1991 und 1995 in Betracht. Mit einer jeweiligen Fläche von
123, 231 und 280 Hektar entsteht eine Gesamtfläche von 634 Hektar in den
Basses Corbières, die im Hinblick auf den Vogelschutz einen besonderen Status
hat. Die Biotop-Verordnungen Nrn. 773/91 und 774/91 sind nahezu identisch
formuliert, während die Verordnung Nr. 95.0226 einen von diesen abweichenden
Wortlaut hat. Allen drei Verordnungen gemeinsam ist, daß die ausgewiesenen
Biotope ausdrücklich in ihrem Titel den Habichtsadler bezeichnen.(18) Allerdings
wird in den Erwägungsgründen der Verordnungen Nrn. 773/91 und 774/91 das
Schutzobjekt der Verordnungen definiert als der Habichtsadler und die anderen
geschützten Arten, die auf der Liste im Anhang der Verordnung aufgeführt sind.
Die Listen enthalten eine Aufzählung von 41(19) bzw. 38(20) Vogelarten, von denen
rund ein Drittel in Anhang I der Vogelschutz-Richtlinie figurieren.(21) Für die
Zwecke des vorliegenden Verfahrens allenfalls von untergeordneter Bedeutung, zur
Vervollständigung der Beschreibung der von den Biotop-Verordnungen geschützten
Fauna jedoch von Interesse ist die Tatsache, daß im Anhang der Biotop-Verordnungen außer den Vogelarten auch andere Tiere wie z. B. Insektenfresser
(Igel), Fledertiere, Nager und Fleischfresser genannt werden.
- 44.
- Die Biotop-Verordnung Nr. 95.0226 enthält in Artikel 1 eine vergleichbare
Beschreibung ihres Schutzojekts. Es ist dort auch von dem Habichtsadler und den
anderen verzeichneten Tierarten, von denen eine Liste der Verordnung als Anhang
beigefügt ist, die Rede.
- 45.
- Die Schutzmaßnahmen für die bezeichneten Vogel- und Tierarten sind in
den Verordnungen von 1991 und der Verordnung von 1995 unterschiedlich
beschrieben. Die Biotop-Verordnungen von 1991 verbieten ausdrücklich jedes
Eindringen in das Gebiet, insbesondere in der Form des Bergsteigens, in der Zeit
vom 15. Januar bis zum 30. Juni. Ausnahmen von diesem Verbot sind nur
vorgesehen für Unterhaltungsarbeiten durch die Eigentümer des Grund und
Bodens sowie für bestimmte Aktivitäten zum Schutz der Vögel. Überdies ist jeder
Eingriff in die Integrität des biologischen Gleichgewichts des Gebietes verboten.
Auch von diesem generellen Verbot sind begrenzte Ausnahmen für
Erhaltungsmaßnahmen der Adler und zur Aufrechterhaltung der öffentlichen
Sicherheit und Ordnung vorgesehen. Feuer sowie jegliche Art der Verschmutzung
des Gebietes sind verboten.
- 46.
- Die Verordnung Nr. 774/91 gestattet ausdrücklich die Errichtung eines
Landschaftsschirms(22) durch die Gesellschaft OMYA zur Ablagerung des Abraums.
Mit der Gestattung ist die Pflicht zur Begrünung des Sichtschutzes mit
einheimischen Pflanzen verbunden.
- 47.
- In der Biotop-Verordnung Nr. 95.0226 ist die Beschreibung der verbotenen
Aktivitäten wesentlich detaillierter. Es werden bestimmte Tätigkeiten verboten wie
das Zertrampeln oder Herausreißen der Vegetation, das Begehen des Gebietes
abseits der Wege, Motorrad- oder Fahrradfahren etc. Die detaillierte Aufführung
der verbotenen Aktivitäten bedeutet jedoch nicht unbedingt einen intensiveren
Schutz als ihn die Biotop-Verordnungen Nrn. 773/91 und 774/91 vorsehen. Dort
sind die Verbote nur globaler formuliert.
- 48.
- Hier kommt es nicht unbedingt darauf an, inhaltliche Unterschiede des
Schutzniveaus der Biotop-Verordnungen auszumachen. Worauf es ankommt, ist die
Frage, ob ein hinreichender Schutz für die in der Gegend beheimateten Vögel, die
gemeinschaftsrechtlich als schützenswerte Arten zu betrachten sind, gewährleistet
ist. Die Frage kann wohl positiv beantwortet werden. Sämtliche Ge- und Verbote
der Biotop-Verordnungen kommen der Flora und Fauna der geschützten Regionen
zugute. Das Abstellen auf den Zeitraum 15. Januar bis 30. Juni in den
Verordnungen Nrn. 773/91 und 774/91 und das ausdrückliche Verbot des
Bergsteigens in diesem Zeitraum hat zwar den Schutz der Nistplätze und der
Brutzeiten des Habichtsadlers zum Anlaß. Dennoch werden auch andere Arten und
insbesondere Raubvögel mit vergleichbaren Nistgewohnheiten von dem Schutz
profitieren. Ein augenfälliges Beispiel für diese Behauptung ist die Ansiedlung des
Steinadlers in der Region nach Erlaß der Biotop-Verordnungen.
- 49.
- Die Behauptung der Kommission, die Biotop-Verordnungen seien einseitig
nur auf den Schutz der Habichtsadler ausgerichtet, ist daher zurückzuweisen.
Sowohl die bevorzugte Stellung des Habichtsadlers als auch der damit
einhergehende materielle Schutz für die anderen geschützten Arten scheinen
angemessen.
- 50.
- Wenn die Kommission darauf verweist, die französische Regierung habe im
Vorverfahren nur die Biotop-Verordnung Nr. 774/91 mitgeteilt, nicht aber die
Biotop-Verordnungen Nrn. 773/91 und 95.0226, dann mag das auf ein
Mißverständnis zurückgehen, weil ganz unbestritten die Genehmigung des
Kalksteinabbaus auf dem Gebiet der Gemeinden Tautavel und Vingrau der Anlaß
für das Verfahren war und die Biotop-Verordnung Nr. 774/91 gerade dieses Gebiet
mit umfaßt. Nachdem sich der Klagevorwurf auf das gesamte Gebiet der Basses
Corbières erstreckt, hatte die französische Regierung Anlaß, sämtliche in diesem
Gebiet erlassenen Maßnahmen zu benennen. Auf jeden Fall ist der Gerichtshof
nicht daran gehindert, sämtliche in dem Gebiet der Basses Corbières ergriffenen
Schutzmaßnahmen zur Kenntnis zu nehmen.
- 51.
- Die Kommission vertritt die Ansicht, die Unzulänglichkeit der
Schutzmaßnahmen werde dadurch unter Beweis gestellt, daß 1998(23) ein
Habichtsadler (Männchen) und kürzlich(24) der zweite von den Steilküsten Vingraus
verschwunden sei. Auch an anderer Stelle, im Gebiet der Biotop-Verordnung Nr.
773/91, sei ein Habichtsadlerpärchen verschwunden.
- 52.
- Zum einen kann, wie die französische Regierung zutreffend vorträgt, nicht
ausgeschlossen werden, daß natürliche Ursachen für das Verschwinden
verantwortlich sind. Zum anderen hat die französsiche Regierung unwidersprochen
vorgetragen, daß im Juni 1999 ein Habichtsadler über den Klippen von Vingrau
gesichtet worden sei. Im übrigen wird von beiden Beteiligten der Hoffnung
Ausdruck verliehen, die Habichtsadler könnten sich an den bekannten Nistplätzen
wieder ansiedeln, die Kommission, um an dem behaupteten Schutzbedürfnis
festzuhalten, die französische Regierung, um das ausreichende Maß des
Schutzniveaus zu dokumentieren.
- 53.
- Das zeitversetzte Verschwinden der Habichtsadler scheint nicht unbedingt
gegen die Geeignetheit der Biotop-Verordnungen zum Schutz der Tiere zu
sprechen, hat sich doch ein Steinadlerpärchen neuerlich angesiedelt, was für eine
relative Unberührtheit der Landschaft bzw. störungsfreie Umwelt spricht.
- 54.
- Die Kommission scheint übrigens gewisse Zweifel an einem
umweltbedingten Ausbleiben des Habichtsadlerpärchens an ihren gewohnten
Nistplätzen zu hegen, verlangt sie doch implizit von der französischen Regierung
das Ergreifen strafrechtlicher Ermittlungen wegen des Verschwindens der Tiere.
- 55.
- Man wird daher den Schluß ziehen können, daß die durch die Verordnung
eingerichteten Biotope ein geeignetes Mittel zum Schutz der Habichtsadler und der
anderen in der Gegend beheimateten schutzwürdigen Vögel sind. Daran
anknüpfend stellt sich jedoch die Frage, ob diese Maßnahmen in geeignetem
Umfang ergriffen wurden.
- 56.
- Sowohl im Vorverfahren als auch in der Klageschrift hat die Kommission
den generellen Vorwurf des Nichtergreifens geeigneter Schutzmaßnahmen im
Gebiet der Basses Corbières erhoben. Im Hinblick auf die Nichtausweisung
besonderer Schutzgebiete ist bei völliger Abwesenheit derartiger Maßnahmen ein
genereller Vorwurf berechtigt. Beim Vorhandensein einiger Maßnahmen ist es
hingegen problematisch, den ausreichenden Umfang zu prüfen, zumal wenn in dem
Klagebegehren keine näheren Angaben gemacht werden, welche Maßnahmen auf
welchem geographisch genau lokalisierten Gebiet hätten ergriffen werden müssen.
- 57.
- Ein erster Anhaltspunkt ist selbstverständlich die Bezeichnung der ZICO
LR07. Für das Verhältnis der flächenmäßigen Ausdehnung einer ZICO und der
Ausweisung besonderer Schutzgebiete hat der Gerichtshof bereits entschieden, daß
sie nicht notwendig identisch sein müssen. Die bloße Tatsache, daß das fragliche
Gebiet in das Verzeichnis der Gebiete von Bedeutung für die Erhaltung der Vögel
aufgenommen wurde, beweist nicht, daß es zum BSG erklärt werden müßte.(25)
Erst in der Replik hat die Kommission, gestützt auf eine Studie von März 1999,
bestimmte Regionen innerhalb der ZICO LR07 bezeichnet, die zu besonderen
Schutzgebieten hätten ausgewiesen werden müssen bzw. deren Ausweisung noch
vorzunehmen sei.
- 58.
- Um beurteilen zu können, ob mit den in der Form der Biotop-Verordnungen - jenseits der unterlassenen Ausweisung besonderer Schutzgebiete -
ergriffenen besonderen Schutzmaßnahmen das rechtlich gebotene Maß erfüllt
wurde, gilt es zunächst, den Maßstab dafür festzulegen. Dafür bietet sich eine
analoge Anwendung der Rechtsprechung zum Verhältnis der flächenmäßigen
Ausdehnung einer ZICO und der gebotenen Ausweisung besonderer Schutzgebiete
an. Sowohl in der Rechtssache C-166/97(26) als auch in der Rechtssache C-96/98(27)
warf die Kommission der Französischen Republik vor, im Rahmen von Gebieten
von Bedeutung für die Erhaltung wildlebender Vogelarten (ZICO) keine
ausreichenden Flächen zu besonderen Schutzgebiete ausgewiesen zu haben. In
beiden Fällen kam es zu einer Verurteilung der Französischen Republik in diesem
speziellen Punkt. Zu beachten ist jedoch, daß die Französische Republik in beiden
Fällen ein Versäumnis grundsätzlich zugestanden hatte.
- 59.
- In der Rechtssache C-166/97 war eine Fläche von 21 900 Hektar des
Mündungsgebiets der Seine als ZICO anerkannt worden. Außerdem mußte man
davon ausgehen, daß 7 800 Hektar des Mündungsgebiets in das 1989 veröffentlichte
europäische ornithologische Verzeichnis Important Bird Areas in Europe
aufgenommen worden waren. Eine 2 750 Hektar große, zum besonderen
Schutzgebiet erklärte Fläche war in diesem speziellen Fall nicht ausreichend.
- 60.
- In der Rechtssache C-96/98 verhielt es sich ähnlich. 77 900 Hektar waren
im Sumpfgebiet des Poitou zum Gebiet von Bedeutung für die Erhaltung der Vögel
(ZICO) erklärt worden. In dem europäischen ornithologischen Verzeichnis
Important Bird Areas in Europe war das Sumpfgebiet des Poitou mit 57 830
Hektar aufgenommen worden. Zum für das Vertragsverletzungsverfahren
maßgeblichen Zeitpunkt war eine Fläche von 26 250 Hektar zum BSG erklärt
worden. Durch weitere Ausweisungen betrug die Fläche der BSG im April 1996
33 742 Hektar. Die zusätzliche Einstufung von 15 000 Hektar wurde im Verfahren
angekündigt. Ohne eine nähere Spezifizierung der auszuweisenden Gebiete stellte
der Gerichtshof den dem Grunde nach von der französischen Regierung
anerkannten Verstoß fest.
- 61.
- Aus beiden Urteilen könnte man gegebenenfalls den Schluß ziehen, daß im
vorliegend zu beurteilenden Fall das zahlenmäßige Mißverhältnis von der
flächenmäßigen Ausdehnung der ZICO LR07 zu der durch die Biotop-Verordnungen geschützten BSG-Fläche auf einen Verstoß hindeutet. Bekanntlich
wurde die ZICO Basses Corbières mit 47 400 Hektar anerkannt. In das
europäische ornithologische Verzeichnis Important Bird Areas in Europe sind die
Corbières im Languedoc-Roussillon mit 150 000 Hektar aufgenommen.
Allerdings umfassen die so bezeichneten Corbières sowohl die ZICO LR07 Basses
Corbières als auch die ZICO LR06 Hautes Corbières. Dennoch sind diese
Zahlenvergleiche mit Vorsicht zu betrachten, beträgt doch die Summe der Flächen
der ZICO LR06 und LR07 122 150 Hektar(28), wohingegen das in das Verzeichnis
Important Bird Areas in Europe aufgenommene Gebiet mit 150 000 Hektar
veranschlagt wird, was immerhin einen Unterschied von rund 27 000 Hektar
bedeutet. Diesen Flächen stehen durch die in Rede stehenden Biotop-Verordnungen BSG-Flächen von insgesamt 680 Hektar gegenüber. Das entspricht
einem Prozentsatz von 1,35 %.
- 62.
- Dabei darf jedoch nicht verkannt werden, daß die französische Regierung
im Laufe des Verfahrens den Standpunkt vertreten hat, sie habe durch die zwar
verspätete Ausweisung der BSG in den Basses Corbières, die flächenmäßig mit
den durch die drei Biotop-Verordnungen geschützten Gebiete identisch sind, alle
ihr durch die Vogelschutz-Richtlinie obliegenden Pflichten erfüllt. Um einen
objektivierten Maßstab dafür anzulegen, ob diese Größenordnung eine
ausreichende Erfüllung der mitgliedstaatlichen Pflichten sein kann, mag es hilfreich
sein, eine Betrachtung der in der Vergangenheit bereits ausgewiesenen BSG im
Verhältnis zu den bezeichneten ZICO's vorzunehmen. Um eine globale Vorstellung
von der durch die Ligue pour la protection des oiseaux (LPO) vorgenommenen
Einteilung von ZICO's in Frankreich zu erhalten, sollte man wissen, daß es nach
einer Studie aus dem Jahr 1995 285 ZICO's gibt. Entsprechend ihrer
ornithologischen Bedeutung hat die LPO eine Klassifizierung von sieben Kategorien
vorgenommen. Die Einteilung stellt sich folgendermaßen dar:
-Klasse A' mit 6 ZICO's von ganz außergewöhnlicher Bedeutung
-Klasse A mit 27 ZICO's von außergewöhnlicher Bedeutung
-Klasse B mit 21 ZICO's von sehr hoher Bedeutung
-Klasse C mit 32 ZICO's von hoher Bedeutung
-Klasse D mit 42 ZICO's von durchschnittlich hoher Bedeutung
-Klasse E mit 65 ZICO's von sehr beachtlicher Bedeutung
-Klasse F alle anderen ZICO's von beachtlicher Bedeutung.
- 63.
- Die Ausweisung als BSG kann also auch davon abhängen, in welcher Klasse
die Gebiete angesiedelt sind. Auf Anfrage des Gerichtshofes hat die Kommission
eine Übersicht zur Verfügung gestellt, in welcher Größenordnung BSGs in den
ZICO's der Klasse C und in den nachgeordneten Klassen ausgewiesen wurden. Der
Tabelle ist zu entnehmen, daß einige ZICO's zu 80 %, 90 % oder gar 100 % zu
BSGs ausgewiesen wurden. In einer Region, den Estuaires du Trieux et du Jaudy
geht das ausgewiesene BSG sogar über die Grenzen der ZICO hinaus. Ein hoher
Prozentsatz ausgewiesener Flächen hängt auch nicht unbedingt von der
Ausdehnung der ZICO ab. Die mit 84 000 Hektar bezeichnete ZICO der Klasse
D des Parc national des Cévennes wurde zu 100 % zum BSG erklärt.
Andererseits finden sich auch sehr kleine Prozentsätze ausgewiesener Gebiete wie
z. B.
-0,58 % in einer ZICO der Klasse D (Barthes de l'Adour)
-1,91 % in einer ZICO der Klasse E (Penes du Moulle de Jaut)
-0,32 % in einer ZICO der Klasse F (Fresnes en Woevre - Mars la Tour)
-0,83 % in einer ZICO der Klasse D (Plateau de l'Arbois, Garrigues de
Lançon et chaîne des côtes)
-0,21 % in einer ZICO der Klasse D (Lac Léman)
-0,45 % in einer ZICO der Klasse E (Basses Ardèche).
In der Klasse C finden sich bis auf die mit 0,76 % angegebene Fläche in den
Basses Corbières Prozentziffern von
-43,77 (Baie de Saint-Brieuc)
-72,12 (Montagne de la Clape)
-96,09 (Cap Gris-Nez)
-82,42 (Estuaires Picards: Baies de Somme et d'Authie)
-11,83 (Traicts et Marais Salants de la Presqu'île guérandaise)
-37,5 (Iles d'Hyéres)
-31,53 (Hauts Plateaux du Vercors et Forêt des Coulmes)
-78,11 (Parc national de la Vanoise).
Dieser zahlenmäßige Vergleich mag vordergründig ein Indiz für eine flächenmäßig
unzulängliche Ausweisung besonderer Schutzgebiete in den Basses Corbières sein.
Um aber keine voreiligen Schlüsse daraus zu ziehen, darf nicht übersehen werden,
daß von den 199 ZICO's der Klasse C, D und F nur 64 in der von der Kommission
zur Verfügung gestellten Liste figurieren. Das sind nur ein Drittel dieser ZICO's.
Es spricht also vieles dafür, daß in dem wesentlich größeren Teil der bezeichneten
ZICO's - in rund zwei Drittel - keine BSGs ausgewiesen wurden. Die Zahlen allein
reichen daher wohl nicht als Beweis für eine Vertragsverletzung.
- 64.
- Es kommt daher darauf an, inwieweit die Kommission glaubhaft machen
konnte, welche weitergehenden Schutzmaßnahmen hätten ergriffen werden müssen.
Erst in der Replik bezeichnete die Kommission(29) konkrete Gebiete, die sich ihrer
Ansicht nach zur Ausweisung als BSGs besonders eignen. In einem früheren
Verfahrensstadium war sie zu einer konkreten Beschreibung des ihrer Meinung
nach gebotenen Verhaltens offenbar nicht in der Lage. Den abstrakten Vorwurf,
die Ergreifung besonderer Schutzmaßnahmen unterlassen zu haben, während
tatsächlich einige - unter Umständen unzulängliche - Maßnahmen ergriffen
wurden, zur Grundlage einer Verurteilung im Vertragsverletzungsverfahen zu
machen, ist problematisch.
- 65.
- Auch wenn also der flächenmäßige Vergleich der ZICO mit den durch die
Biotop-Verordnungen geschützten Gebiete ein Indiz für die Unzulänglichkeit der
ergriffenen Schutzmaßnahmen im Hinblick auf ihre geographische Ausdehnung sein
mag, gestattet er für sich wohl nicht den Schluß auf das Vorliegen einer
Vertragsverletzung.
- 66.
- Es müssen weitere Momente hinzutreten, die erkennen lassen, wo und für
welche Arten der Schutz ungenügend ist. Vor diesem Hintergrund ist das
Vorbringen der Kommission relevant, die französischen Behörden hätten den das
Gebiet der Basses Corbières frequentierenden Zugvögeln nicht genügend
Rechnung getragen.
- 67.
- Insofern kann man wohl davon ausgehen, daß zum für das
Vertragsverletzungsverfahren maßgeblichen Zeitpunkt keine besonderen
Maßnahmen für die Zugvögel ergriffen worden waren, und zwar weder in der Form
der Ausweisung besonderer Schutzgebiete noch durch anders geartete besondere
Schutzmaßnahmen. Die Biotop-Verordnungen lassen nicht erkennen, daß sie die
Zugvögel auf eine für sie spezifische Weise schützen.
- 68.
- Artikel 4 Absatz 2 der Vogelschutz-Richtlinie fordert allerdings
entsprechende Maßnahmen(30) für regelmäßig auftretende Zugvogelarten
hinsichtlich ihrer Vermehrungs-, Mauser- und Überwinterungsgebiete sowie der
Rastplätze in ihren Wanderungsgebieten. Die Kommission hat anhand von Karten
belegt, daß die Basses Corbières als Wanderungsgebiet von Zugvögeln zu
betrachten sind, was von der französischen Regierung auch grundsätzlich nicht
bestritten wird. Die Kommission hat jedoch nicht einmal behauptet, daß es sich bei
den Basses Corbières um Vermehrungs-, Mauser- oder Überwinterungsgebiete
der Zugvögel handele. Um ein besonderes Schutzbedürfnis im Sinne der Richtlinie
zu verkörpern, müßte es sich mindestens um Rastplätze der Zugvögel handeln.
Die französische Regierung hat vorgetragen, daß in den Basses Corbières keine
als Rastplätze zu bezeichnende Zonen zu bestimmen seien. Insbesondere gebe
es keine spezifischen Sammlungsorte der Zugvögel, wie es etwa an den Küstenseen
der Fall sei.
- 69.
- Am Rande sei erwähnt, daß die französische Regierung eingeräumt hat,
gelegentlich könnten Störche, Schwarzmilane und Wiesenweihe zur Rast oder
Nahrungsaufnahme beobachtet werden. Bezeichnenderweise handelt es sich bei
diesen Vogelarten um solche des Anhangs I der Vogelschutz-Richtlinie, deren
Auftreten in einer Region an sich zu besonderen Schutzmaßnahmen Anlaß gibt.
- 70.
- Im übrigen ist die Kommission jeden Hinweis dafür schuldig geblieben, ob
und gegebenenfalls wo Rastplätze der Zugvögel anzutreffen sind. Vor diesem
Hintergrund könnte äußerstenfalls aus der vollständigen Abwesenheit von
besonderen Schutzmaßnahmen für Zugvögel der Schluß gezogen werden, daß ein
pflichtwidriges Unterlassen des Mitgliedstaats vorliegt. Dennoch kann die Tatsache
allein, daß ein Gebiet in einer Flugschneise der Zugvögel gelegen ist, noch nicht
als Auslöser für die einem Mitgliedstaat nach Artikel 4 Absatz 2 der Vogelschutz-Richtlinie auferlegten Pflichten genügen.
- 71.
- Hinzutreten müssen weitere in Artikel 4 Absatz 2 genannte Umstände, die
einen Mitgliedstaat zum Handeln verpflichten. Deshalb dürfte der auf Artikel 4
Absatz 2 der Vogelschutz-Richtlinie gestützte Vorwurf der unterlassenen
Schutzmaßnahmen für Zugvögel zurückzuweisen sein.
- 72.
- Im Rahmen des ersten Klagegrundes führt somit nur der Vorwurf der
versäumten Ausweisung besonderer Schutzgebiete im Sinne des Artikels 4 Absatz 1
der Vogelschutz-Richtlinie zur Feststellung einer Vertragsverletzung.
V -Zum zweiten Klagegrund
1.Vortrag der Beteiligten
- 73.
- Die Kommission macht mit dem zweiten Klagegrund geltend, die
Französische Republik habe nicht die geeigneten Maßnahmen ergriffen, um
Belästigungen der in den Basses Corbières beheimateten Vögel sowie
Beeinträchtigungen ihres Lebensraums zu verhindern. Die sich aus Artikel 4 Absatz
4 der Vogelschutz-Richtlinie ergebenden Pflichten würden auch für die Gebiete
gelten, die unter Mißachtung von Artikel 4 Absätze 1 und 2 der Richtlinie nicht zu
besonderen Schutzgebieten erklärt worden seien.
- 74.
- In Anbetracht der Tatsache, daß seit dem Anwendungszeitpunkt der
Habitat-Richtlinie, also dem 10. Juli 1994, die Pflichten nach Artikel 6 Absätze 2,
3 und 4 der Habitat-Richtlinie an die Stelle der sich aus Artikel 4 Absatz 4 erster
Satz der Vogelschutz-Richtlinie ergebenden getreten sei, hätten nach Meinung der
Kommission die Vorschriften des Artikels 6 Absätze 2 bis 4 der Habitat-Richtlinie
auch auf den vorliegenden Fall angewendet werden müssen. Die Eröffnung des
Betriebes zum Kalksteinabbau sei unter Mißachtung dieser Vorschriften erfolgt.
- 75.
- Der Betrieb bringe erhebliche Beeinträchtigungen mit sich. Er bedinge eine
Verringerung des Jagdreviers für den Habichtsadler, was vor allem in der Zeit der
Aufzucht der Jungen Probleme bereiten könne. Auch darüber hinaus habe der
Betrieb des Kalksteinbruchs visuelle und akustische Beeinträchtigungen zur Folge.
Vor allem könnten der Lärm sowie elektrische Leitungen zur Gefahr für die Adler
werden.
- 76.
- Zwar hätten die französischen Behörden darauf hingewiesen, daß die
Genehmigung für den Betrieb des Kalksteinabbruchs unter Bedingungen erteilt
worden sei, die den Anforderungen des Artikels 6 Absatz 3 der Habitat-Richtlinie
entsprächen, indem eine umfassende Verträglichkeitsprüfung durchgeführt worden
sei. Entsprechend dieser Studie seien Ausgleichsmaßnahmen ergriffen worden, um
die Auswirkungen des Betriebes auf die natürliche Umwelt zu verringern. Die
Studie sei der Kommission jedoch nie zur Verfügung gestellt worden. Die der
Kommission mitgeteilten Informationen reichten daher nicht, um beurteilen zu
können, ob das Genehmigungsverfahren den Anforderungen des Artikels 6 Absätze
2 bis 4 der Habitat-Richtlinie genüge. Der Versuch einer nachträglichen
Rechtfertigung könne daher den Verstoß gegen die Vorschriften der Richtlinie
nicht aus der Welt schaffen.
- 77.
- In der Replik weist die Kommission ausdrücklich darauf hin, daß die
unternommenen Studien den gemeinschaftsrechtlichen Anforderungen nicht
genügen könnten und unvollständig seien. Die französische Regierung spreche im
übrigen auch nur von Vorsichtsmaßnahmen (mesures de précaution) und nicht von
Ausgleichsmaßnahmen (mesures compensatoires), wie sie die Richtlinie
vorschreibe.
- 78.
- Die französische Regierung macht zunächst darauf aufmerksam, daß die
Kommission keinerlei Beweise dafür erbringe, daß der Kalksteinbruch erhebliche
Belästigungen für das Habichtsadlerpärchen oder andere geschützte Vögel mit sich
bringe. Die französische Regierung macht geltend, daß
a)keine wissenschaftliche Studie zu dem Schluß gekommen sei, daß das
Unternehmen erhebliche Auswirkungen auf die geschützten Arten und
insbesondere den Habichtsadler haben könne,
b)dem Betrieb des Steinbruchs eine umfassende Verträglichkeitsprüfung
vorausgegangen sei, die zu dem Ergebnis komme, daß durch das Vorhaben
keine erheblichen Auswirkungen für die Umwelt zu erwarten seien,
c)vorsorglich bedeutende Maßnahmen zur Verhinderung etwaiger negativer
Auswirkungen auf die Umwelt ergriffen worden seien.
Zu a)
- 79.
- Vorab erinnert die französische Regierung daran, daß der Kalksteinabbau
seit 1968 auf dem Gebiet der Gemeinde Tautavel betrieben werde. Die
Habichtsadler hätten während all der Jahre an den Steilhängen Vingraus genistet,
ohne daß sie sich erkennbar hätten stören lassen.
- 80.
- Bereits bei der Verabschiedung der Biotop-Verordnung habe sich die
französische Regierung dafür eingesetzt, größere Gebiete unter Schutz zu stellen,
damit die Nistplätze der Adler nicht durch Bergsteiger hätten beeinträchtigt werden
können. Im übrigen seien bei der Planung der Erweiterung des Kalksteinbruchs die
örtlichen Naturschutzverbände beteiligt worden, um Beeinträchtigungen der
Nistplätze zu verhindern.
- 81.
- Wissenschaftliche Untersuchungen auf nationaler Ebene hätten gezeigt, daß
die Habichtsadler einerseits zwar durch den Menschen bedroht seien, daß es aber
in gleichem Maße natürliche Ursachen für ihre Bedrohung gäbe. So sei
beispielsweise seit einigen Jahren eine ungewöhnliche Sterblichkeit junger Adler zu
beobachten, die auf den Befall der Raubvögel durch einen Parasiten (Trichomonas
columbiae) zurückzuführen sei.
- 82.
- Die elektrischen Leitungen für den Betrieb der Kalksteinmine seien im
übrigen unterirdisch verlegt worden, so daß sie keine akute Gefahr für die Vögel
darstellen könnten. Zur Verringerung etwaiger Lärmbelästigungen sei ein
Landschaftsschirm errichtet worden. Der der Genehmigung vorausgehenden
Verträglichkeitsprüfung sei außerdem zu entnehmen, daß fast alle Tiere im
Hinblick auf Geräusche gewöhnungsfähig seien, wie u. a. der Betrieb der Mine in
Tautavel beweise.
- 83.
- Bei der Bestimmung des Jagdreviers des Habichtsadlers sei große Vorsicht
geboten. Es sei von einer Größenordnung, die nicht darauf schließen lasse, daß der
Kalksteinabbau den Lebensraum der Adler erheblich beeinträchtigen könne. Der
Kalksteinbruch und die dazu gehörenden Einrichtungen nähmen eine Fläche von
30 Hektar in Anspruch, wohingegen sich die ZICO der Basses Corbières auf
47 000 Hektar erstrecke.
Zu b)
- 84.
- Zunächst bestreitet die französische Regierung die von der Kommission
aufgestellte Behauptung, es seien keine alternativen Lösungen für das Vorhaben
geprüft worden. Sowohl die Gesellschaft OMYA als auch die französischen
Behörden hätten mögliche Alternativen geprüft. Die von der Kommission
erwähnten Kalksteinvorkommen von Salses-Opoul seien wesentlich geringer als die
in Vingrau-Tautavel. Während bei einem Abbau der Vorkommen in Salses-Opoul
mit einer Erschöpfung nach acht bis neun Jahren gerechnet werden müsse, sei jetzt
eine Genehmigung für 30 Jahre zum Abbau in Vingrau-Tautavel erteilt worden. Es
gebe also keine Alternativen.
- 85.
- Abgesehen davon sei eine komplexe Verträglichkeitsprüfung im Einklang
mit dem geltenden nationalen Recht unternommen worden. Die Studie stütze sich
auf acht Voruntersuchungen (geologische, hydrologische, solche zum Minenverlauf,
zu akustischen Störungen, zum Weinbau, zu den Staubniederschlägen und zur
natürlichen Umwelt). Sämtliche Studien seien vor dem maßgeblichen
Anwendungszeitpunkt der Habitat-Richtlinie, also dem 10. Juni 1994, erstellt
worden. Der Conseil d'Etat habe ausdrücklich zu Umfang und Inhalt der Studien
Stellung genommen und sei zu dem Schluß gekommen, daß die
Verträglichkeitsprüfung gemäß den Anforderungen des mitgliedstaatlichen Rechts
in ausreichendem Umfang durchgeführt worden sei.
- 86.
- Alle von der Kommission erwähnten möglichen Quellen der
Beeinträchtigung des Lebensraums der Vögel durch Lärm, elektrische Leitungen
und die Verringerung des Jagdreviers der Raubvögel seien geprüft worden.
Zu c)
- 87.
- Schließlich seien eine Reihe vorsorglicher Maßnahmen beschlossen worden.
Zum Schutz des Jagdreviers der Adler sollen Wasserstellen eingerichtet und
Wiesen unterhalten werden, die die Vermehrung des Kleinwildes begünstigen. Die
Gesellschaft OMYA habe sich auf Vorschlag der örtlichen Ornithologen
ausdrücklich verpflichtet, Kleintierarten in der Gegend anzusiedeln, um die
Nahrungsquellen für die Adler zu vermehren. Die Ansiedlung von Hasen sei
vorgesehen.
- 88.
- Zum Schutz der angrenzenden natürlichen Umwelt sei ein
Landschaftsschirm errichtet worden. Dieser sei geeignet, sowohl optische als auch
akustische Beeinträchtigungen abzuschwächen. Alle Maßnahmen fügten sich in
einen Gesamtplan zur Pflege der natürlichen Umgebung. So seien auch die mit
dem Betrieb des Kalksteinabbaus einhergehenden landschaftlichen Veränderungen
nicht irreversibel. Der Bauleiter sei mit der Wiederherstellung des natürlichen
Erscheinungsbildes der Gegend betraut.
- 89.
- Zur terminologischen Klarstellung weist die französische Regierung darauf
hin, daß der Begriff Ausgleichmaßnahmen (mesures compensatoires) im Sinne
des nationalen Rechts gebraucht worden sei(31) und Maßnahmen zur Abschwächung
jedweder Auswirkungen eines Projekts beinhalte. Demgegenüber werde der Begriff
in Artikel 6 der Habitat-Richtlinie für Maßnahmen gebraucht, die dazu bestimmt
seien, negative Auswirkungen auf ein Habitat auszugleichen. Um Mißverständnissen
aus dem Weg zu gehen, habe die französische Regierung den Begriff
Vorsichtsmaßnahmen (mesures de précaution) verwendet.
- 90.
- Inhaltlich sei festzuhalten, daß nach Ansicht der französischen Behörden
durch den Kalksteinabbau keine erheblichen Auswirkungen auf den Lebensraum
der Vögel zu erwarten sei, so daß der Kommission keine Ausgleichsmaßnahmen
im Sinne des Artikels 6 der Habitat-Richtlinie mitzuteilen gewesen seien.
2.Würdigung
Zur Anwendbarkeit der Habitat-Richtlinie
a)Die Anwendbarkeit der Habitat-Richtlinie auf den vorliegenden Fall ist
insofern fraglich, als das Genehmigungsverfahren für die Erweiterung des
Kalksteinabbaus mit Sicherheit vor dem für die vollständige Anwendbarkeit der
Richtlinie genannten 10. Juli 1994 begonnen wurde. Zwar wurde die Genehmigung
erst am 9. November 1994 erteilt. Dennoch deutet einiges darauf hin, daß der
Antrag auf die Genehmigung wesentlich früher gestellt wurde. Zum einen erwähnt
die französische Regierung, daß alle Einzelstudien für die Verträglichkeitsprüfung
lange vor Juli 1994 durchgeführt worden seien. Zum anderen trägt sie vor, daß
bereits im Jahr 1991 eine Genehmigung zur Erweiterung des Kalksteinbruchs erteilt
worden sei, die, nachdem die Gegner des Projekts dagegen vorgegangen waren, nun
ebenfalls bestandskräftig sei. Letztlich verfüge die Gesellschaft OMYA über zwei
Genehmigungen für dasselbe Vorhaben, wobei die spätere zwingendere
Voraussetzungen aufstelle als die frühere. Zum Gegenstand des vorliegenden
Verfahrens sei daher allein die spätere gemacht worden.
- 91.
- In dem Vertragsverletzungsverfahren C-431/92(32), das die Kommission gegen
die Bundesrepublik Deutschland wegen Mißachtung der UVP-Richtlinie(33) bei
einem konkreten Projekt betrieben hatte, verteidigte sich die Bundesregierung mit
dem Argument, das betreffende Genehmigungsverfahren sei bereits vor dem
maßgeblichen Zeitpunkt für die Anwendbarkeit der Richtlinie eingeleitet worden.
Das Argument führte nicht zum Erfolg, da der Gerichtshof auf die förmliche
Einleitung des Genehmigungsverfahrens abstellte, die unstreitig nach dem
maßgeblichen Datum lag und insofern alle Vorverhandlungen für unbeachtlich
erachtete. Es ist nicht auszuschließen, daß bei anderer zeitlicher Reihenfolge das
Argument der Bundesregierung durchgegriffen hätte.
- 92.
- Im vorliegenden Verfahren ergibt sich der genaue Zeitpunkt der förmlichen
Einleitung des Genehmigungsverfahrens nicht aus den Akten. Deshalb soll im
nachfolgenden trotz der vorhandenen Bedenken die Prüfung fortgesetzt werden.
b)Ein zweiter Einwand zur Anwendbarkeit der Habitat-Richtlinie inhaltlicher
Art ergibt sich aus der Einbeziehung der Vogelschutz-Richtlinie in die Habitat-Richtlinie gemäß Artikel 7 der Habitat-Richtlinie. Nach Artikel 7 der Habitat-Richtlinie treten die Verpflichtungen nach Artikel 6 Absätze 2 bis 4 der Habitat-Richtlinie an die Stelle der Pflichten, die sich aus Artikel 4 Absatz 4 Satz 1 der
Vogelschutz-Richtlinie ergeben und zwar im Hinblick auf zu BSGs erklärte bzw. als
solche anerkannte Gebiete im Sinne des Artikels 4 Absätze 1 und 2 der
Vogelschutz-Richtlinie. Dies gilt - so Artikel 7 - ab dem Datum für die Anwendung
der Habitat-Richtlinie bzw. danach ab dem Datum, zu dem das betreffende
Gebiet von einem Mitgliedstaat entsprechend der Richtlinie 79/409/EWG zum
besonderen Schutzgebiet erklärt oder als solches anerkannt wurde ...
- 93.
- Diese Formulierung stellt also ganz eindeutig darauf ab, daß das Gebiet
zunächst den Status eines BSG im Sinne der Vogelschutz-Richtlinie haben muß,
bevor die Verpflichtung des Artikels 6 der Habitat-Richtlinie gilt. Der zeitversetzte
Geltungsanspruch für bereits ausgewiesene Schutzgebiete ab dem Datum für die
Anwendung der vorliegenden Richtlinie und für die noch auszuweisenden ab dem
Datum, zu dem das betreffende Gebiet ... zum besonderen Schutzgebiet erklärt
oder als solches anerkannt wird, läßt für eine andere Deutung keinen Raum.
- 94.
- Die erste förmliche Ausweisung besonderer Schutzgebiete in den Basses
Corbières erfolgte im Jahr 1999.(34) Bei einer wörtlichen Auslegung kann also die
Habitat-Richtlinie auf die Vorgänge, die Gegenstand des vorliegenden
Vertragsverletzungsverfahrens sind, nicht zur Anwendung kommen.
- 95.
- Auf diese Problematik hingewiesen, hat die Kommission dennoch an ihrer
Einschätzung festgehalten, Artikel 6 der Habitat-Richtlinie müsse auf den
vorliegenden Fall Anwendung finden. Sie begründet dies folgendermaßen: Der
Gerichtshof habe im Urteil vom 2. August 1993 in der Rechtssache C-355/90(35)
entschieden, daß die aus Artikel 4 Absatz 4 der Vogelschutz-Richtlinie fließenden
Pflichten nicht nur dann zu beachten wären, wenn zuvor ein BSG ausgewiesen
worden sei.(36) Diese Rechtsprechung werde bestätigt durch die Urteile in den
Rechtssachen C-166/97(37) und C-96/98(38). Danach seien die Verpflichtungen nach
Artikel 4 Absatz 4 Satz 1 der Vogelschutz-Richtlinie auch dann zu beachten, wenn
das betreffende Gebiet nicht zum BSG erklärt worden war, obwohl dies hätte
geschehen müssen.(39)
- 96.
- Die Gründe, die auch bei mangelnder Ausweisung als BSG für die
Anwendbarkeit des Artikels 4 Absatz 4 der Vogelschutz-Richtlinie sprächen,
würden auch für die Anwendbarkeit des Artikels 6 Absätze 2 bis 4 der Habitat-Richtlinie gelten. Wenn dem nicht so wäre, bestünde eine Dualität der Regelungen
nach Artikel 4 Absatz 4 der Vogelschutz-Richtlinie einerseits und Artikel 6 Absätze
2 bis 4 der Habitat-Richtlinie andererseits. Die Regelung nach Artikel 4 Absatz 4
der Vogelschutz-Richtlinie sei in gewissem Sinne strenger, da sie nicht in dem
gleichen Maße die Möglichkeit für Ausnahmen vorsehe, wie Artikel 6 Absätze 2
bis 4 der Habitat-Richtlinie. Es wäre paradox, wenn dann für tatsächlich nicht
ausgewiesene Gebiete die strengere Regelung zur Anwendung komme, als für
förmlich ausgewiesene bzw. anerkannte besondere Schutzgebiete.
- 97.
- Zwar ist es richtig, daß der Gerichtshof die Anwendbarkeit des Artikels 4
Absatz 4 der Vogelschutz-Richtlinie auf Gebiete, die zu besonderen Schutzgebieten
gemäß Artikel 4 Absätze 1 und 2 hätten erklärt werden müssen, tatsächlich aber
nicht ausgewiesen worden waren, anerkannt hat. Dennoch ist die von der
Kommission daran geknüpfte rechtliche Konsequenz zugunsten der Anwendbarkeit
des Artikels 6 Absätze 2 bis 4 der Habitat-Richtlinie nicht die einzig mögliche. Zur
Vermeidung einer Auslegung des Artikels 7 der Habitat-Richtlinie contra legem
dürfte ein anderer Ansatz vorzuziehen sein. Dabei kann auf der Grundlage der
vorhandenen Rechtsprechung(40) davon ausgegangen werden, daß die
Mitgliedstaaten gemäß Artikel 4 Absatz 4 geeignete Maßnahmen treffen, um die
Verschmutzung oder Beeinträchtigung der Lebensräume sowie die Belästigungen
der Vögel - sofern sich diese auf die Zielsetzungen dieses Artikels erheblich
auswirken - zu vermeiden, und zwar auch in Gebieten, die zu BSGs im Sinne der
Absätze 1 und 2 des Artikels hätten erklärt werden müssen.
- 98.
- Es sei hier an die prozeßrechtliche Konstellation erinnert, in der der
Gerichtshof diese Verpflichtung zum ersten Mal postulierte. Dem Königreich
Spanien war im Rahmen eines Vertragsverletzungsverfahrens vorgeworfen worden,
seinen Verpflichtungen aus Artikel 4 Absätze 1 und 2 der Vogelschutz-Richtlinie
nicht nachgekommen zu sein. Gegenüber dem weitergehenden Vorwurf, auch das
Ergreifen geeigneter Maßnahmen im Sinne des Artikels 4 Absatz 4 pflichtwidrig
unterlassen zu haben, verteidigte sich die spanische Regierung dahin gehend, sie
könne nicht wegen unterlassener Ausweisung besonderer Schutzgebiete und
gleichzeitig wegen des Unterlassens der in diesen Gebieten gebotenen Maßnahmen
verfolgt werden. Dieses Verteidigungsvorbringen wies der Gerichtshof damals
zurück, und so kam es zu der geschilderten Feststellung zur Anwendbarkeit des
Artikels 4 Absatz 4 der Vogelschutz-Richtlinie und der darin vorgesehenen
verpflichtenden Maßnahmen.
- 99.
- Man könnte hinter dieser Rechtsprechung den im Gemeinschaftsrecht
weitverbreiteten Rechtsgedanken erkennen, daß ein Mitgliedstaat aus der
Mißachtung seiner gemeinschaftsrechtlichen Pflichten keinen Vorteil ziehen soll.(41)
Wäre der Gerichtshof der Logik des Verteidigungsvorbringens der spanischen
Regierung in der Rechtssache C-355/90 gefolgt, so hätte das für die Mitgliedstaaten
bedeutet, daß sie dann, wenn sie es unterlassen hätten, besondere Schutzgebiete
auszuweisen, allenfalls wegen dieser Untätigkeit hätten belangt werden können.
Darüber hinaus hätten sie sich jedoch im quasi rechtsfreien Raum befunden,
angesichts dessen sie nicht wegen der Verschmutzung oder Beeinträchtigung der
Lebensräume schutzwürdiger Vogelarten hätten belangt werden können.
- 100.
- Eine zögernde Haltung der Mitgliedstaaten bei der Ausweisung besonderer
Schutzgebiete wäre sicher begünstigt worden, hätte sich der Gerichtshof nicht für
die Anwendbarkeit des Artikels 4 Absatz 4 auch bei einer Nichtausweisung als BSG
ausgesprochen, hat doch der Gerichtshof in einem anderen Kontext(42) einen sehr
strengen Maßstab im Hinblick auf die Beeinträchtigungen besonderer Schutzgebiete
angelegt. Dort hat er weder wirtschaftliche noch freizeitbedingte Erfordernisse zur
Rechtfertigung verändernder Eingriffe in die Umwelt gelten lassen(43) - obwohl von
der als Streithelfer auftretenden britischen Regierung ausdrücklich auf Artikel 2 der
Richtlinie hingewiesen -(44), sondern nur Gründe des Gemeinwohls, die Vorrang vor
den mit der Richtlinie verfolgten Umweltbelangen haben, wie die Abwendung der
Überschwemmungsgefahr und der Küstenschutz.(45)
- 101.
- Es handelt sich genau um diese Ausgangssituation, wenn die Kommission
von einem strengeren Regime nach Artikel 4 Absatz 4 der Vogelschutz-Richtlinie
gegenüber den Verpflichtungen aus Artikel 6 Absätze 2 bis 4 der Habitat-Richtlinie
spricht, bei denen wirtschaftliche oder soziale Gründe in der Form von
zwingenden Gründen des überwiegenden öffentlichen Interesses Berücksichtigung
finden können.
- 102.
- Die von der Kommission angesprochene Dualität der Regime für
ausgewiesene besondere Schutzgebiete einerseits und solche, die hätten ausgewiesen
werden müssen andererseits, dürfte unproblematisch sein, wird doch dadurch ein
gewisser Anreiz für die Mitgliedstaaten geschaffen, BSGs auszuweisen, wenn sie
sich dadurch die Möglichkeit eröffnen, von den starren Voraussetzungen des
Artikels 4 Absatz 4 der Vogelschutz-Richtlinie (in seiner Auslegung durch den
Gerichtshof(46)) abzuweichen.
- 103.
- Es ist auch keineswegs so, daß alle Regionen gleich welcher Art und Güte
an den strengeren Voraussetzungen des Artikels 4 Absatz 4 der Vogelschutz-Richtlinie gemessen würden, nur weil sie nicht zu BSGs ausgewiesen worden sind.
Es muß sich vielmehr um Gebiete handeln, die zu BGSs hätten ausgewiesen
werden müssen. Sie müssen eine besondere Qualität haben, die durch einen hohen
Grad an Bestimmheit hinsichtlich ihrer Bedeutung für die Vogelwelt
gekennzeichnet ist. Gemäß Artikel 4 Absatz 1 Unterabsatz 4 muß es sich um eines
der für die Erhaltung der Arten zahlen- und flächenmäßig geeignetsten Gebiete
handeln. Mit der Qualifizierung eines Gebietes als eines, das zum BSG hätte
ausgewiesen werden müssen, geht auch ein gewisses Unwerturteil im Hinblick auf
die Versäumnisse bei der Erfüllung mitgliedstaatlicher Pflichten nach Artikel 4
Absätze 1 und 2 der Vogelschutz-Richtlinie einher. In allen anderen Regionen gilt
ohnehin die Bemühenspflicht des Artikels 4 Absatz 4 zweiter Satz, in dem es heißt:
Die Mitgliedstaaten bemühen sich ferner, auch außerhalb dieser Schutzgebiete die
Verschmutzung oder die Beeinträchtigung der Lebensräume zu vermeiden.
- 104.
- Als Ergebnis der Betrachtung zum Konkurrenzverhältnis des Artikels 4
Absatz 4 der Vogelschutz-Richtlinie und Artikel 6 Absätze 2 bis 4 der Habitat-Richtlinie ist festzuhalten, daß Artikel 6 Absätze 2 bis 4 nicht mittels des Artikels
7 der Habitat-Richtlinie auf Gebiete zur Anwendung kommt, die nicht Gegenstand
einer förmlichen Ausweisung bzw. Anerkennung als ein BSG waren. Für den
vorliegenden Fall bleibt es daher bei der Anwendung des Artikels 4 Absatz 4 der
Vogelschutz-Richtlinie.
- 105.
- Im Rahmen des zweiten Klagegrundes geht es also nun darum zu klären,
ob die französischen Behörden dadurch, daß sie die Genehmigung zur Erweiterung
des Kalksteinbruchs auf dem Gebiet der Gemeinden Vingrau und Tautavel
genehmigt haben, gegen ihre gemeinschaftsrechtlichen Pflichten aus Artikel 4
Absatz 4 der Vogelschutz-Richtlinie verstoßen haben. Da das Gebiet völlig
unstreitig im November 1994 nicht als ein BSG ausgewiesen war, müßte es sich
zunächst um ein Gebiet handeln, daß als ein BSG hätte ausgewiesen werden
müssen.
- 106.
- Das Gebiet der Gemeinden Vingrau und Tautavel liegt innerhalb des durch
die Biotop-Verordnung Nr. 774/91 geschützten Gebietes. Inzwischen ist genau
dieses Gebiet im Januar 1999 auch als BSG ausgewiesen worden. Vor diesem
Hintergrund begegnet es keinen Bedenken, das Gebiet, auf das sich die
Genehmigung bezieht, als eines zu betrachten, das sich in einem zum BSG
auszuweisenden Gebiet befindet. Die dem Mitgliedstaat obliegende Pflicht war und
ist also, geeignete Maßnahmen zu treffen, um die Verschmutzung oder
Beeinträchtigung der Lebensräume sowie die Belästigung der Vögel [zu vermeiden],
sofern sich diese auf die Zielsetzung des Artikels erheblich auswirken.(47)
- 107.
- Die Kommission geht ganz selbstverständlich davon aus, daß die mit dem
Kalksteinabbau einhergehenden Veränderungen der Umwelt zu solchen
erheblichen Beeinträchtigungen der Lebensräume sowie Belästigungen der Vögel
führen. Die französische Regierung macht hingegen geltend, daß die Veränderung
nicht erheblich im Sinne der Vorschrift sei.
- 108.
- Es ist in der Tat so, daß die Vorschrift nicht jeglichen Eingriff in die Umwelt
verbietet, sondern nur solche, die sich auf die Zielsetzungen des Artikels 4
erheblich auswirken. Dabei darf nicht verkannt werden, daß die Vogelwelt sehr
sensibel auf Eingriffe des Menschen auf die Umwelt reagieren kann.
- 109.
- Um beurteilen zu können, ob ein Eingriff erheblich im Sinne der
Vorschrift ist, soll bei den Zielsetzungen des Artikels 4 der Vogelschutz-Richtlinie
angesetzt werden. Die Vorschrift gebietet eine besondere Mühewaltung für die
Lebensräume der in Anhang I der Vogelschutz-Richtlinie zu schützenswerten Arten
erklärten Vögel. Das Vorhandensein einiger dieser Arten in der Region, allen
voran der Habichtsadler, ist unumstritten.
- 110.
- Was den vielfach zitierten Habichtsadler anbelangt, so sei zunächst
nochmals darauf hingewiesen, daß der Kalksteinabbau in Tautavel bereits seit 1968
betrieben wird. Während all der Jahre haben die Habichtsadler immer wieder an
den Steilküsten von Vingrau genistet. Daß 1997/98 das Habichtsadlerpärchen
ausgeblieben ist, kann nicht im Zusammenhang mit der Erweiterung des
Kalksteinabbaus stehen, weil diese Tätigkeiten zu der Zeit noch nicht in Angriff
genommen worden waren.
- 111.
- Die zum Betrieb der Anlage erforderlichen Elektrizitätsleitungen wurden
nach dem insofern unbestrittenen Vortrag der französischen Regierung unterirdisch
verlegt, so daß auch sie keine akute Gefahr für die Vögel darstellen.
- 112.
- Wenn einmal der erweiterte Kalksteinbruch in vollem Betrieb sein wird, ist
damit zu rechnen, daß eine Fläche von 30 Hektar in Anspruch genommen wird. Im
Hinblick auf die Gesamtfläche des durch die Verordnung Nr. 774/91 geschützten
Biotops bzw. des jetzigen BSG von 231 Hektar sind das 7,7 %. Stellt man die 30
Hektar Nutzfläche gar in Beziehung zu der ZICO LR07 von 47 400 Hektar,
relativiert sich das Ausmaß der in Anspruch genommenen Fläche nochmals
erheblich.
- 113.
- Dennoch ist nicht ausgeschlossen, daß der Betrieb des Kalksteinabbaus
Lärmbelästigungen und eine Beeinträchtigung des Jagdreviers der Raubvögel mit
sich bringt.
- 114.
- In diesem Zusammenhang hat die französische Regierung auf den zum
Ausgleich ausdrücklich genehmigten Landschaftsschirm und Maßnahmen zur
Vermehrung des Jagdwildes für die Raubvögel verwiesen.
- 115.
- Fraglich ist jedoch, ob und inwiefern derartige Kompensationsmaßnahmen
im Rahmen der Prüfung des Artikels 4 Absatz 4 der Vogelschutz-Richtlinie
Berücksichtigung finden dürfen.
- 116.
- Im Gegensatz zu Artikel 4 Absatz 4 der Vogelschutz-Richtlinie sieht Artikel
6 Absätze 2 bis 4 der Habitat-Richtlinie für den Fall, daß das Projekt - trotz
negativer Umweltverträglichkeitsprüfung - aus überwiegendem öffentlichen
Interesse dennoch durchgeführt wird, Ausgleichsmaßnahmen vor.
- 117.
- Artikel 4 Absatz 4 der Vogelschutz-Richtlinie sieht an sich keine
Ausnahmen vor. Außer dem bereits erwähnten von der Rechtsprechung gebilligten
Vorrang des Gemeinwohls in der Form von Maßnahmen zum Schutz von Leib und
Leben von Menschen(48) sind grundsätzlich keine Abweichungen möglich.
Gleichwohl hat der Gerichtshof in diesem strengen Urteil aber in Rechnung
gestellt, daß das in Rede stehende Vorhaben konkrete positive Auswirkungen für
die Lebensräume der Vögel(49) hatte.
- 118.
- Deshalb dürfte es zulässig sein, daß gewisse Kompensierungsmaßnahmen bei
der Prüfung der Erheblichkeit der Auswirkungen Berücksichtigung finden können.
Denn die Regelung des Artikels 4 Absatz 4 der Vogelschutz-Richtlinie ist zum
einen nicht als ein absolutes Verbot jeglicher Veränderungen zu betrachten. Zum
anderen ist die Erheblichkeit der Auswirkungen des Vorhabens in ihrer Gesamtheit
zu sehen. Unter dieser Voraussetzung dürfen von den französischen Behörden
vorgeschriebene oder angeregte Kompensierungsmaßnahmen bei der
Gesamtbewertung mitberücksichtigt werden. Stellt man dann die Errichtung und
Begrünung des Landschaftsschirms, die Bewirtschaftung von Wiesen, die
Einrichtung von Wasserstellen, die Ansiedlung bzw. Vermehrung des Kleinwildes
sowie die Verpflichtung zur Wiederherstellung des ursprünglichen
Erscheinungsbildes der Landschaft in Rechnung, dann dürfte es durchaus
wahrscheinlich sein, daß die Lebensräume der ansässigen Vögel nicht in
erheblichem Maße beeinträchtigt werden. Daher wird vorgeschlagen, den zweiten
Klagegrund zurückzuweisen.
- 119.
- Für den Fall, daß der Gerichtshof der im vorigen skizzierten Lösung nicht
folgen möchte und trotz des zeitlichen und des inhaltlichen Bedenkens gemäß
Artikel 7 von der Anwendbarkeit des Artikels 6 Absätze 2 bis 4 der Habitat-Richtlinie ausgehen möchte, sollen hier noch einige Hilfsüberlegungen angestellt
werden.
- 120.
- Das Vorhaben zur Erweiterung des Kalksteinabbaus müßte dann den
Bedingungen dieser Vorschrift genügen. Zunächst soll im Hinblick auf die in
Artikel 6 Absatz 2 formulierten Bedingungen zum Eingreifen der Vorschrift darauf
hingewiesen werden, daß trotz weitgehender Übereinstimmung in den
Formulierungen des Artikels 4 Absatz 4 der Vogelschutz-Richtlinie und Artikel 6
Absatz 2 der Habitat-Richtlinie sich die Inhalte nicht decken. So ist z. B. eine
erhebliche Auswirkung auf die Zielsetzung des Artikels 4 Absätze 1 und 2 der
Vogelschutz-Richtlinie nicht das gleiche wie eine erhebliche Auswirkung auf die
Ziele der Habitat-Richtlinie. In Artikel 4 Absätze 1 und 2 der Vogelschutz-Richtlinie geht es ausdrücklich um den Schutz bestimmter Vogelarten, während das
Ziel der Habitat-Richtlinie anders und möglicherweise weiter zu definieren ist.(50)
In Artikel 6 Absätze 2 und 3 ist außerdem von Störungen die Rede, die sich
erheblich auswirken könnten bzw. von Projekten, die ein BSG erheblich
beeinträchtigen könnten. Es versteht sich von selbst, daß die bloße Möglichkeit
der Auswirkung weitergehendere Verpflichtungen zur Vermeidung zur Folge hat
als die Fälle, in denen die Auswirkung tatsächlich eintritt. Der Gebrauch des
Konjunktivs deutet auf eine umfassendere Verpflichtung hin, als bei dem Gebrauch
des Indikativs (auswirken) in Artikel 4 Absatz 4 der Vogelschutz-Richtlinie. Die
im vorigen angestellten Überlegungen zur Erheblichkeit der Auswirkungen sind
daher nicht notwendigerweise auf Artikel 6 Absatz 2 der Habitat-Richtlinie zu
übertragen.
- 121.
- Insofern ist es durchaus möglich, wenn nicht sogar wahrscheinlich, daß es
sich bei dem Vorhaben der Erweiterung des Kalksteinabbaus um ein Projekt im
Sinne des Artikels 6 Absatz 3 der Habitat-Richtlinie handelt. Dies bedingt
notwendigerweise die Durchführung einer Verträglichkeitsprüfung wie sie ebenfalls
in Artikel 6 Absatz 3 festgelegt ist. Damit trotz negativem Prüfungsergebnis das
Projekt unter der Auflage von Ausgleichsmaßnahmen erlaubt werden kann, sind
vorher die in Artikel 6 Absatz 4 genannten Ausnahmegründe zu prüfen. Hierbei
können auch wirtschaftliche und soziale Interessen eine Rolle spielen. Über dies
ist die Kommission zu informieren.
- 122.
- Tatsächlich haben die französischen Behörden eine Reihe
Voruntersuchungen machen lassen und sind zu dem Ergebnis gekommen, das
Vorhaben sei mit den formulierten Umweltzielen vereinbar. Selbst wenn die
Behörden in einem ersten Stadium zu einem negativen Ergebnis gekommen wären,
hätten sie im weiteren Verlauf des Verfahrens nach Artikel 6 Absatz 4 der Habitat-Richtlinie vorgehen müssen.
- 123.
- Unterstellt, die französischen Behörden wären bei ihrer Prüfung nach
Artikel 6 Absatz 3 der Habitat-Richtlinie zu einem negativen Prüfungsergebnis
gekommen(51), dann hätten sie die Möglichkeit gehabt, nach Artikel 6 Absatz 4 den
Plan oder das Projekt aus zwingenden Gründen des überwiegenden öffentlichen
Interesses einschließlich solcher sozialer oder wirtschaftlicher Art durchzuführen,
sofern keine Alternativlösung vorhanden war. Im Hinblick auf die Alternativlösung
hat die französische Regierung dargelegt, daß diese Möglichkeit sehr wohl geprüft,
jedoch negativ entschieden wurde. Die angesprochene Alternative des Abbaus der
Kalksteinvorkommen im Salses-Opoul sei zwar im Hinblick auf die Qualität der
Mineralien, nicht jedoch auf deren Menge in Betracht zu ziehen gewesen.
- 124.
- Verfahrensmäßig stand den französischen Behörden also der Weg offen,
soziale und wirtschaftliche Gründe ins Feld zu führen. Hier spielt sicher die hohe
Arbeitslosigkeit in der Region, der die Erhaltung bzw. Einrichtung von 200
Arbeitsplätzen gegenübersteht, eine Rolle. Die Bewertung der einzelnen Elemente
entspricht einer Ermessensentscheidung, die nur auf ihre Rechtmäßigkeit, jedoch
nicht auf die Opportunität ihres Inhaltes hin überprüft werden kann. Die
französischen Behörden haben diesen Abwägungsprozeß offensichtlich positiv
entschieden, ohne daß grobe Fehler dieses Vorgangs erkennbar wären. Der
Mitgliedstaat, der sich für ein Vorgehen nach Artikel 6 Absatz 4 der Habitat-Richtlinie entscheidet, ist jedoch verpflichtet, Ausgleichsmaßnahmen zu ergreifen.
Daß derartige Ausgleichsmaßnahmen beschlossen wurden, wurde bereits bei der
Prüfung des Artikels 4 Absatz 4 der Vogelschutz-Richtlinie angesprochen.
- 125.
- Die Kommission trägt nun vor, sie sei nicht von dem Verfahren in der nach
Artikel 6 Absatz 4 gebotenen Form unterrichtet worden. Insofern überzeugt der
Gegeneinwand der französischen Regierung, daß sämtliche Studien vor dem 10. Juli
1994, dem maßgeblichen Anwendungszeitpunkt für die Habitat-Richtlinie,
durchgeführt worden seien. Bei diesem zeitlichen Kontext des Geschehens wird
man nicht auf der Einhaltung der sich aus dieser Richtlinie ergebenden
Formerfordernisse bestehen können. Maßgeblich und ausreichend muß dann sein,
daß den Geboten der Habitat-Richtlinie inhaltlich Rechnung getragen wurde.(52)
- 126.
- Im Ergebnis ist daher festzuhalten, daß auch bei positiver Beantwortung der
Anwendungsproblematik des Artikels 6 Absätze 2 bis 4 der Habitat-Richtlinie der
zweite Klagegrund nicht zu der beantragten Verurteilung führen kann.
VI - Kosten
- 127.
- Nach Artikel 69 § 2 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei auf
Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Gemäß Artikel 69 § 3 Absatz 1
kann der Gerichtshof jedoch die Kosten ganz oder teilweise gegeneinander
aufheben, wenn jede Partei teils obsiegt teils unterliegt. Da die Kommission bei der
hier vorgeschlagenen Lösung nur mit einem Teil ihres Vorbringens Erfolg haben
wird, wird vorgeschlagen, die Kosten gegeneinander aufzuheben.
VII - Ergebnis
- 128.
- Als Ergebnis vorstehender Überlegungen schlage ich folgende Entscheidung
vor:
1.Die Französische Republik hat dadurch gegen ihre Verpflichtungen nach
Artikel 4 Absatz 1 der Richtlinie 79/409/EWG des Rates vom 2. April 1979
über die Erhaltung der wildlebenden Vogelarten verstoßen, daß sie es
unterlassen hat, in dem Gebiet der Basses Corbières besondere
Schutzgebiete im Sinne der Vorschrift auszuweisen.
2.Im übrigen wird die Klage abgewiesen.
3.Jede Partei trägt ihre eigenen Kosten.
Auf die in Anhang I aufgeführten Arten sind besondere Schutzmaßnahmen hinsichtlich
ihrer Lebensräume anzuwenden, um ihr Überleben und ihre Vermehrung in ihrem
Verbreitungsgebiet sicherzustellen.